Das gruene Gewissen
unvorstellbare Energie der Natur und ihrer Elemente, die sich unseren Blicken entzieht, wird schon seit langem genutzt. Entdeckt wurde die Strahlung des Urans durch Henri Becquerel und weiter erforscht durch Pierre und Marie Curie. Später waren es deutsche Wissenschaftler, namentlich Otto Hahn und Fritz Straßmann, denen erstmals die Kernspaltung gelang. Sie machten die Entdeckung, dass der Kern des Elements Uran-235 durch Beschuss mit Neutronen, also ladungsfreien Teilchen, auseinanderfällt. Bei der eigentlichen Spaltung verschmilzt ein Neutron mit dem Kern des Uran-235 zu einem Kern des Isotops namens Uran-236, der nach kurzer Zeit wiederum in zwei Teile zerfällt und neue Kerne bildet. Diese Kerne stoßen sich ab und erzeugen die immense Bewegungsenergie, die man in geordnete Bahnen lenkt.
Diese Energie ist so unvorstellbar groß, dass Milker Vergleiche bemühen muss, um sie auszudrücken: Der Reaktorkern des Blocks Zwei enthält 193 Brennelemente, wovon jedes aus 236 Brennstäben besteht, die mit Uran-Dioxid-Tabletten gefüllt sind. Eine einzige Tablette hat die Energiedichte von knapp einer Tonne Steinkohle und von rund zweieinhalb Tonnen Braunkohle. In einem westdeutschen Kinderbuch der populären „Was ist was“-Reihe aus den achtziger Jahren, das meine Frau mit in den Haushalt gebracht hat, lese ich einen anderen Vergleich: Aus einem Kilogramm Uran-235 kann man danach eine Energiemenge gewinnen, zu deren Erzeugung 67 Kesselwagen mit je 30 Tonnen Heizöl notwendig wären. 73
Dieses Faszinosum der Natur einmal außen vor gelassen, ist ein Kernkraftwerk ansonsten nichts anderes als ein Kohlekraftwerk: eine simple physikalische Angelegenheit. Eine Energiequelle erhitzt Wasser bis zum Sieden, und in dem geschlossenen System entsteht Dampf mit hohem Druck. Dieser treibt eine Turbine mit dem Generator an, der den Strom produziert – das ist alles. Verglichen mitden Fortschritten in der modernen Chemie oder Biotechnologie ist dies hier eine verständliche Technik. Sie rüttelt nicht in derselben Weise an den gedanklichen Grundfesten unseres Naturbilds, wie es künstliche Zellteilungen und -duplizierungen vermögen.
Dann sehe ich nach unten: In acht Metern Wassertiefe lagern die Gestelle mit den Brennelementen. Man kann anhand der dunklen Oberflächen gut erkennen, welche Elemente schon in Betrieb waren und welche frischmetallisch glänzend auf ihren Einsatz warten. Das Wasser ist ganz still, keine Regung ist zu erkennen. Immer wieder schaue ich auf mein Strahlungsmessgerät, ob sich der angezeigte Dosiswert erhöht hat. Ich bin geneigt, Milker nach der Funktionstüchtigkeit der Geräte zu fragen.
Stattdessen sagt er von selbst: „Die persönliche Begegnung mit der Technik ist das Faszinierende.“ Und ich gebe ihm intuitiv recht. Umgekehrt trägt die Unmöglichkeit einer gefühlsmäßigen Begegnung dazu bei, eine emotionale Abwehr zu erzeugen oder zu verstärken. Die Angst vor dem Unbekannten ist zwangsläufig größer. Es ist kein Zufall, dass nukleare Strahlung nicht anders als CO 2 oder die genetische Veränderung von Pflanzen in einen ebenso pauschalen wie einsichtigen Kontext der Gefahr gestellt wird. Trotz oder gerade wegen der Modernität und Arbeitsteiligkeit unseres Lebens sehnen wir uns nach einer empirischen Erfassbarkeit der Dinge, um ihnen vertrauen zu können.
Dies geht weit über das Kraftwerk hinaus. Wenn Kartoffeln heute mit angetrockneter Erde verkauft werden, so zeigt dies den Wunsch, Prozesse und Herkünfte in Einklang mit unseren Erfahrungen und Bildern zu bringen. Wir bewegen uns auf der Ebene von Phänomenen, sind Sinnesmenschen geblieben. Das macht verständlich, wie sich Distanz verringern lässt. Niemand gibt dies zu, aber die Technik als „Nachbar“ ist – wenn einmal in der Welt und ohne negative Auswirkungen – eben weitaus weniger von Anfeindungen betroffen als die Technik als Idee. Dies gilt für Braunkohlekraftwerke in derselben Weise wie für die erneuerbaren Energien. Oder eben die Kernkraft.
Diese Annäherung ist durch die „Vermenschlichung“ der Technik begründet. Denn wir können Technik durch unsere Alltagserfahrungen – Bilder wie den täglichen Weg zur Arbeit, die Beziehungen der dort arbeitenden Bekannten und Verwandten, die eine Kindheit prägende Gegenwart eines Schornsteins oder Hochspannungsmastes beim Blick aus dem Fenster – an uns heranlassen wie alles andere auch. Sie wird dann ein Teil des eigenen Lebens. Bereits die französischen
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