Das gruene Gewissen
Rheinsberg das größte Rückbauprojekt der Welt statt, für das es 1990 kein historisches Vorbild gab. Man betrat Neuland. Mittlerweile ist daraus eine Kompetenz geworden, die auch andere nachfragen. „Wir haben den Zuschlag bekommen, 120 Atom-U-Boote stillzulegen“, sagt Möller, und es klingt ein wenig nach Kaltem Krieg und der Jagd auf Roter Oktober .
1956 schloss man einen geheimen Vertrag zwischen den Regierungen der DDR und der Sowjetunion, für den man das Codewort „Kontrakt 903“ fand. Nach dem Vorbild des zeitgleich gebauten Kraftwerks in Nowoworonesch am Don entstand im Zauberwald nahe Rheinsberg ein Kraftwerk, das zwar nur 70 Megawatt Strom produzierte – ein Spielzeug verglichen mit Kraftwerksblöcken, wie sie seit den siebziger Jahren in Biblis, Gundremmingen oder Philippsburg gebaut wurden. Aber es gab inmitten der brandenburgischen Provinz erstmals Strom – ohne rauchende Schornsteine, ohne Ruß, ohne Schwefeldioxid, ohne Heizer und ohne Lastkraftwagen, um die Kohle zu transportierten.
Dies kann man auch bei der Berliner Schriftstellerin Annett Gröschner nachlesen, die in ihrer Zeit als Stadtschreiberin ein bemerkenswertes Buch über das Kraftwerk verfasste, eine Collage aus Dokumenten, Zitaten und persönlichen Eindrücken. 70 Während es am Anfang der fünfziger Jahre in neun Gemeinden Brandenburgs keinen Strom gab, sollen es in Mecklenburg 46 gewesen sein.
Man kann sich die Hoffnung, die mit einer sauberen Stromproduktion verbunden war, heute nicht mehr recht vorstellen. In gewisser Weise kann man sagen, dass die positiven Eigenschaften, die wir heute mit Solarstrom hinsichtlich seiner Sauberkeit und Geräuschlosigkeit verbinden, einmal für Kernstrom galten. Die von Gröschner zitierte „Traktorenlyrikerin“ dichtet denn auch:
„Atom wird Helfer, und du siehst das Morgen
den hohen, hellen Schornstein, der nicht raucht.
Du wirst von deinem Zauber nichts verlieren,
nützt du dem kühnen Kraftwerk, das dich braucht.“ 71
Die Technik für den Bau des Kraftwerks, berichtet Möller, bekam man damals ebenso wie die Brennelemente aus der UdSSR geliefert. Vertraglich geregelt war auch die Rücknahme des hochradioaktiven Materials, während die schwach- und mittelstark strahlenden Abfälle vor Ort auf einem „Friedhof“ zwischengelagert wurden und dann ins Endlager Morsleben kamen, ein ehemaliges Kali-und Steinsalzbergwerk. Kaum zu glauben, denke ich, während mein Gesprächspartner weiterredet, aber die Züge mit Abfall fuhren bis nach Brest an die sowjetische Grenze. Dort tauschte man die Lokomotive und ein paar Papiere. Und fort fuhr der Zug ins Nirgendwo.
Entstanden war auch eine Stadt in der Stadt mit mehr als eintausend neuen Bürgern. 670 festangestellte Mitarbeiter waren hier bis zur Wende beschäftigt, allein 130 Wissenschaftler. Sie verwandelten Rheinsberg, ein Städtchen märkischer Ackerbauern, in dem Friedrich der Große einige Jahre seiner Jugend verbracht hatte, in einen Ort der Wissenschaft und Technik. Möller, der sich im hiesigen Verein für Stadtgeschichte als Vorsitzender engagiert, zog als Kind nach Rheinsberg, weil sein Vater als Physiker das Kraftwerk mit aufbauen sollte. Nach Abitur und Maschinenbaustudium fing auch er im späteren „VEB Kernkraftwerke Bruno Leuschner“ an, doch er wurde bald darauf delegiert, ein Zweitstudium in Kerntechnik zu absolvieren.
Der Mann mit Bart und Brille macht kein Geheimnis daraus, dass er die deutsche Entscheidung nach dem März 2011 für einen Sonderweg, ja für einen Irrweg mit fatalen Konsequenzen für die Versorgungssicherheit, die Strompreisentwicklung und den Klimaschutz hält. In nunmehr zehn Jahren wird Deutschland aus der Kernkraft per Gesetz aussteigen, sagt er. Aber Abschalten allein sei keine Kunst. „Wenn man sich ansieht, dass alte fossile Kraftwerke wieder angeschmissen werden müssen, dann kann das nicht richtig sein.“
Tatsächlich ist auch anderswo in der Welt entweder ein Rückzug oder ein Stillstand in Bezug auf die Kernenergie zu beobachten. Alle wesentlichen Zuwachsraten im Energiesektor werden wie oben beschrieben vor allem durch fossile Energieträger wie jene aus der nur 200 Kilometer entfernten Lausitz erreicht. Dass Möller diesen Weg für den falschen hält, verwundert nicht.
Umso mehr bin ich überrascht, wie wenig Wehmut in seinen Worten liegt, als er vom Rückbau erzählt, den er vor allem als einetechnische Aufgabe sieht. Der Kampf der Technologien sei nach mehreren durchaus euphorischen
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