Das gruene Gewissen
Provinz. Auch hier in Brandenburg östlich von Rheinsberg.
Manchmal kommt in einem einzigen Lied alles zusammen, was man Zeitgeist nennt, um selbigen später weit zu verfehlen. Das Lied war mir lange peinlich. Doch für mich holt Blueprint die Zeit der Wende zurück, die ersten Fahrten nach Kleinmachnow und Westberlin, den Grenzübergang Treptow, das Hämmern der Mauerspechte, die vielen selbst entwickelten Fotos. Dann kamen der Grunge und das neue Berlin, Techno und Drum’n Bass, Musik, die souveräner war und weltläufiger. Aber nicht so optimistisch.
Ich verlor Katharina Franck aus den Augen. Irgendwann sah ich ein Foto von ihr in der Zeitung und kaufte mir diese CD, eine Art Alterswerk. Es war noch immer dieselbe Energie, die von ihrer Stimme ausging, dasselbe Vorpreschen. Und es passte hierher wie nichts sonst.
Siebenhundert Kilometer südwestlich
Als der Tsunami die Stadt Minamisanriku auslöschte und Tausende Menschen starben, brach nur für sehr kurze Zeit ein Fachgespräch über die unterschiedlichen Kühlkreisläufe aus – die Dieselgeneratoren, die das geordnete Runterfahren des Reaktors sicherstellen sollten, waren durch eine zweite Welle überflutet worden. Der Rest des Landes diskutierte da längst die generellen Risiken der Technologie.
Auch die Ethikkommission unter Vorsitz von Klaus Töpfer und Matthias Kleiner, der als Ingenieur und damaliger Chef der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) keinen Zweifel am endgültigen Verlust des Vertrauens in die Kerntechnik aufkommen ließ, sprach sich für einen vollständigen Ausstieg aus, obwohl man wie die Reaktorsicherheitskommission keine relevanten Mängel am Kraftwerkspark vorzubringen hatte. 72 Stattdessen war nun das „Gemeinschaftswerk Energiewende“ in aller Munde. Es sollte verdeutlichen, dass die Regierungsparteien einen Beschluss getroffen hatten, dessen Umsetzung alle einbezog. Der verstaubte, bestenfalls noch in der Humangenetik und beim gleichnamigen Rat verwendete Begriff der Ethik war auf einmal wieder präsent. Im Zweifelsfall obsiegten in Deutschland noch immer ethische Kriterien über technische, sollte das heißen. Es war ein eigenwilliges Bild: Eine Gesellschaft, die sich ansonsten darin überbot, von Innovationen, Herausforderungen und Potenzialen zu reden, griff auf einmal zum Begriffsinventar der Moral.
Während Rheinsberg durch seine mythische Geschichte und den besonderen Ort an Fontanes Stechlin zu einem Denkmal der Industriekultur wurde, stand das Kernkraftwerk Philippsburg nördlich von Karlsruhe inmitten der aktuellen Debatten um Fukushima und die Folgen. Denn es war direkt von der Entscheidung im März 2011 betroffen: Der 1979 in Betrieb genommene Block Eins mit 926 Megawatt elektrischer Leistung wurde sofort vom Netz genommen. Als die Bundesregierung ein Moratorium verhängte, entschied sie anhand des Stichjahrs 1980.
Der Block hätte, so sagt man hier, unter technischen Gesichtspunkten gut und gern länger laufen können, zumal in den USA Laufzeiten von vierzig bis sechzig Jahren keine Seltenheit sind. Nur wenige Monate vorher hatte man das in Berlin auch so gesehen: Als der Bundestag im Oktober 2010 eine Novelle des Atomgesetzes beschloss, regelte er eine Laufzeitverlängerung auch für Block Eins. Die vor 1980 in Betrieb gegangenen Anlagen erhielten für acht zusätzliche Betriebsjahre eine Genehmigung, die anderen Kraftwerke beziehungsweise Blöcke für 14 Jahre.
Zu diesem Zeitpunkt gehörte Philippsburg mit einer Leistung von insgesamt knapp 2400 Megawatt noch zu den stärksten Kernkraftwerken in Deutschland, gelegen zwischen den Lastzentren Karlsruhe und Mannheim-Ludwigshafen: Dreißigmal so viel Strom wie der sowjetische Druckwasserreaktor WWER-2 in Rheinsberg produzierte es – etwas mehr als das größte Braunkohlekraftwerk der Welt, das im August 2012 im rheinischen Grevenbroich-Neurath eröffnet wurde.
Den Standort Philippsburg hatte man damals unter denselben Gesichtspunkten ausgewählt wie bei den anderen deutschen KKWs. Mit Ausnahme einiger Zentren wie Hamburg waren sie alle in Hessen, Bayern und Baden-Württemberg entstanden: in Bundesländern, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg stark industrialisierten. Sie waren „revierfern“, weitab von Kohlekraftwerken und Anlandemöglichkeiten in großen Binnenhäfen. Wie das KKW Rheinsberg war auch Philippsburg direkt am Wasser gelegen. 13 Jahre nach Rheinsberg ging Block Eins ans Netz, ein von der AEG und der Firma Telefunken gebauter Siedewasserreaktor.
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