Das gruene Gewissen
vertonte das deutsche Liedgut von Schubert und Brahms wie auch Gustav Mahlers Lied von der Erde , das ihr Abschiedswerk werden sollte. Kathleen Ferrier starb 1953 nach einer kurzen Karriere im Alter von nur 42 Jahren an Krebs. Sie unterlaggewissermaßen dem Willen der Natur, nachdem sie sich einer Strahlenbehandlung unterzogen hatte.
Ebenfalls im Radio gespielt wurde an jenem Apriltag Mahlers Zyklus der Kindertotenlieder , der mir früher, als ich die schwarz-weiß gestaltete Platte im Wohnzimmerschrank fand, immer Angst gemacht hatte. Was mochte das sein, ein Kindertotenlied? Eines, vielleicht das schönste, ging so:
„In diesem Wetter, in diesem Braus,
Nie hätt’ ich gesendet die Kinder hinaus;
Man hat sie getragen hinaus,
Ich durfte nichts dazu sagen!
In diesem Wetter, in diesem Saus,
Nie hätt’ ich gelassen die Kinder hinaus,
Ich fürchtete sie erkranken;
Das sind nun eitle Gedanken.“
Im Angesicht des jähen Todes der Sängerin Kathleen Ferrier nahmen sich diese Zeilen wie eine Warnung aus: Die Natur wird nicht anders als in Goethes Ballade vom Erlkönig als eine schicksalhafte Gefahr geschildert, in der die Schutzbedürftigen umzukommen drohen. Gustav Mahler hatte sich in seinem Liederzyklus an Gedichte Friedrich Rückerts angelehnt, die dieser nach dem Tod zweier seiner Kinder verfasst hatte. Er selbst hatte elf Geschwister. Sechs von ihnen starben im Kindesalter. Woran, das kann man nur erahnen, bei zweien weiß man es genauer: an Hepatitis oder Gelbsucht – einer Viruserkrankung, die damals infolge der Verunreinigungen von Wasser häufig vorkam.
Die meisten Deutschen meiner Generation, die in anderen hygienischen Verhältnissen aufgewachsen und Vorsorgeimpfungen gegen Hepatitis B gewöhnt sind, dürften mit Gelbsucht das letzte Mal bestenfalls als Leser des Romans Der Vorleser von Bernhard Schlink in Berührung gekommen sein. Vielleicht auch als Kinozuschauer: Mit der Gelbsucht des fünfzehnjährigen Michael Berg, die das Drehbuch kurzerhand zu Scharlach macht, beginnt die Liebesbeziehung zur ehemaligen Lageraufseherin Hanna Schmitz.
Risse im Fortschrittsbild
Beim Betrachten der Entwürfe meines Großvaters, unter denen der „Ärztekalender“ der DDR einer der beeindruckenden ist, lebt die alte Welt der Medizin in all ihrer Autorität auf: Man sieht Schwestern mit Häubchen und universitäre Honoratioren. Aus den Bildern spricht ein Wunsch, die Natur zu bezwingen, und gleichzeitig die Einsicht in ihre Überlegenheit. Fast will es scheinen, dass ein Zusammenhang zwischen der würdevollen weißen Erscheinung und dem Tod besteht, dass die gestärkten Kragen und Hauben nicht nur die Fortsetzung eines anderen Kleidungsstils sind, wie es ihn in jedem anderen Bereich des gesellschaftlichen Lebens auch gab. Sie verleihen ihren Trägern Haltung, als müssten sie jemanden vor der Nähe des Todes schützen.
Man kann sich darüber streiten, ob wir dank des Fortschritts der Medizin glücklicher geworden sind. Wohl aber ist die Sterblichkeit messbar gesunken, die Hygiene gestiegen, sind die Krankheiten zurückgegangen. Es bedarf keiner Beweise, dass das Zurückdrängen der Natur in wenigen anderen Bereichen historisch betrachtet zu einem so starken Anstieg der Lebensqualität geführt hat wie in der Medizin und Hygiene, wenngleich dieser Punkt wie gemacht ist für Widerspruch. Kann man Lebensqualität an der Länge des Lebens festmachen? Das hohe Publikumsinteresse an Romanen, Geschichtsdokumentationen und Spielfilmen über das Mittelalter etwa sieht gänzlich über die unvorstellbaren Härten des damaligen Lebens hinweg. Das Mittelalter erscheint uns nicht als eine lange Epoche der Geschichte, sondern als ein Gefühl. Und dieses ist archaisch und damit irgendwie verlockend, zumindest aus der sicheren Distanz.
Der medizinische Fortschritt in Diagnose, Behandlung, Hygiene und Prävention ist in gewisser Weise ein historischer Spätzünder. Noch in den fünfziger Jahren gab es in jedem Winter Diphtherie-Epidemien. In den USA löste man das Problem fehlender Respiratoren dergestalt, dass man Nothospitäler in Turnhallen einrichtete und Medizin-Studenten die erkrankten Kinder mit Handbeuteln beatmen ließ.
Nicht anders als der technische Fortschritt im Ganzen, hat auch der medizinische Fortschritt in der Wahrnehmung vieler Menschen in den vergangenen Jahren Risse erhalten. Er ist ungeachtet aller Erfolge, die sich in jeder Familie von Generation zu Generation aufzeigen lassen und die in Gestalt von
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