Das gruene Gewissen
Arzt-Serien im Fernsehen oder in Magazinen noch immer eine Mythosbildung der ganz eigenen Art darstellen, zum Sinnbild einer seelenlosen Optimierungsmaschinerie geworden, die eben nicht „ganzheitlich“ im Sinne etwa der chinesischen Medizin angelegt ist, sondern nach Einzelfaktoren fragt.
Daran sind nach einer Zeit des verstärkten Einsatzes von Pharmaka, der in die Nachkriegsjahrzehnte fällt und in der bundesrepublikanischen Geschichte mit Skandalen wie Contergan assoziiert wird, aber nicht die Zunahme des Verwaltungsaufwands oder die Rationalisierungsmaßnahmen schuld. Auch wenn die Patientenklagen über ärztliche Behandlungsfehler zugenommen haben, die zum Tod oder bleibenden Behinderungen führen, dürfte das Misstrauen kaum daraus erklärbar sein. Es stellt sich deshalb die Frage, gegen welchen Fortschritt wir eigentlich rebellieren oder besser: welche Natur wir dabei meinen.
Naturheilpraxen, spirituelle, oft an die asiatische Heilkunst angelehnte Verfahren, aber auch außerklinische Geburten, die man der bis vor wenigen Jahren noch sehr steril und aseptisch anmutenden Kreißsaal-Atmosphäre vorzieht, haben Konjunktur. Neben rationalen, gewissermaßen medizinisch begründbaren hat dies auch gefühlsmäßige Gründe: Patienten sehnen sich nach Zuspruch und einem permanenten Kontakt mit den behandelndenÄrzten, aus einem nachvollziehbaren Kontroll- und „Monitoring“-Bedürfnis heraus, das die Medizin und der Habitus der planmäßigen Abarbeitung von Geburten befördert haben. Sie deuten auf einen Wertewandel, der sich auch im Umgang mit der eigenen, der Natur des Menschen offenbart. Der Satz vieler Großeltern, sie seien seit zwanzig Jahren nicht mehr beim Arzt gewesen: Er ist in mehrfacher Hinsicht heute unvorstellbar. Dahinter steckt aber auch ein sozialer Wandel.
Zudem gibt es eine „politische“ Dimension des Gesundheitsthemas, die mit einer besonderen Prägung der Deutschen aufgrund der überdurchschnittlich hohen Sozialstandards zu tun hat. Während die Ideologie des grünen Gewissens eine der Mittel- und Oberschicht sein mag, ist der Anspruch, einen Arzt zu jeder Zeit egal weswegen sehen zu können, tief in der Bevölkerung verankert – und unabhängig vom Einkommen und Bildungsgrad. Während die Menschen in den USA für eine Krebstherapie Hypotheken auf ihre Häuser aufnehmen und das Prinzip der Notärzte nicht kennen, glauben wir an unser unverbrüchliches Recht auf kostenlose Behandlung, und das sofort. Ich weiß aus dem eigenen Bekanntenkreis, dass selbst erhöhte Temperaturen von Kindern ein Grund sein können, sich am Wochenende an einen Arzt zu wenden oder einen Rettungswagen zu rufen, anstatt das eigene Auto oder ein Taxi zu nehmen.
Die vielzitierte „Vollkasko-Mentalität“, die freilich vor allem als eine Diskussion um gesunkene Leistungen und die Zweiklassenmedizin geführt wird, hat einen ähnlichen Ausgangspunkt wie andere Phänomene des grünen Denkens auch. Nicht anders als die Beurteilung von Risiken im Energie-, Verkehrs- oder Lebensmittelbereich hängt sie mit dem immens gestiegenen Kontrollbedürfnis zusammen, jede Unsicherheit und Schicksalhaftigkeit der Natur von vornherein ausschließen und sich eben nicht ihrem Willen anvertrauen zu wollen. Wie gehen wir, denen die Natur doch so sehr am Herzen liegt, mit dem Alter und dem Tod um, mit den Launen des Natürlichen?
Die Abnahme der Säuglingssterblichkeit
Wer es früher schaffte, alt zu werden, der erreichte bisweilen ein Lebensalter, das sich nicht stark von heutigen unterscheidet. Der Anstieg der Kurven rührt von einer anderen Größe her: Kinder sind der neuralgische Punkt in der Statistik, und nicht zuletzt am Umgang mit ihnen ist zu beobachten, welche gesellschaftlichen Werte auch im Hinblick auf das „Natürliche“ damals und heute zählen. Exemplarisch lässt sich dies am Schicksal einer Frau namens Anna durchbuchstabieren, die am Ende des 18. Jahrhunderts geboren wurde und mit der mich etwas Persönliches verbindet:
In den Zeiten, als ihr Leben beginnt, überziehen schwere Hungersnöte das Land. Die Chroniken und Kirchenbücher berichten, dass die Menschen Gras und Mäuse gegessen hätten. Mit fünfzehn erfährt sie zum ersten Mal, was Krieg bedeutet, denn die Franzosen sind von Westen her ins Allgäu eingedrungen, ihre Heimat.
Als sie zwanzig Jahre alt ist, wird das Allgäu noch einmal zum Kriegsgebiet, Soldaten des deutschen Kaisers versuchen, die eingefallenen Franzosen zurückzuwerfen, dabei liegen
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