Das gruene Gewissen
Orte mit Namen wie Petersthal, Moosbach, Ottacker zwischen den verfeindeten Lagern. Es ist die Zeit, in der Napoleon beginnt, nicht nur Deutschland, sondern Europa zu erobern.
In dieser Zeit, in der das Kaiserreich versinkt und sich die politische Landkarte Mitteleuropas verändert, heiratet Anna im Alter von 21 Jahren ihren Mann. Knapp zehn Monate nach der Hochzeit kommt das erste Kind auf die Welt, das zweite 1804, dann 1806, dann 1807, und es geht immer so weiter. Das elfte Kind kommt 1817, es wird auf den Namen Kaspar getauft – er ist der Urururgroßvater meiner Kinder.
Nach 23 Ehejahren gebiert sie das sechzehnte Kind, es ist ihr letztes. Sie ist 44 Jahre alt, und sechs Jahre später ist sie tot. Mit fünfzig Jahren und zwei Monaten hat sie nicht nur 16 Kinder geboren, sondern auch mit angesehen, dass acht davon entweder bei der Geburt oder bevor sie das Alter von drei Jahren erreichen konnten gestorben sind. Wäre sie zwei Jahre älter geworden, hätte sie zudem erleben müssen, dass zwei ihrer erwachsenen Töchter mit 23 und 27 Jahren innerhalb eines Monats sterben.
Annas Leben läuft dabei nicht unter der Rubrik Tragödie oder unermessliches Leid. Ihr Name erscheint nirgendwo auf einem Stein. Sie erduldet das ganz alltägliche Landleben des frühen 19. Jahrhunderts, ein gleichförmig bäuerlich geprägtes Leben ohne nennenswerte Veränderungen wie all die Jahrzehnte und Jahrhunderte davor. Die medizinische Versorgung, die Ernährung, das Wort Hygiene, all das ist ohne jedwede Bedeutung.
Wenn man Kindern heute eine speziell auf ihre Lebensphase abgestimmte medizinische Versorgung zuteilwerden lässt, so ist dies nicht immer so gewesen. Erst seit einem guten Jahrhundert gibt es die Kinderheilkunde, wie wir sie heute kennen. Sie war ausschließlich von den Ergebnissen der Naturwissenschaften dominiert: Kinder galten lange Zeit als „kleine Erwachsene“. Folglich reichte es aus, sie wie diese behandeln zu lassen. Ein tieferes Verständnis insbesondere von den Empfindungen von Säuglingen gab es dabei über weite Strecken nicht. Im Gegenteil, Säuglinge und Kinder waren „Mängelwesen“, die es nicht nur unter dem Einfluss der Pädagogik des Kaiserreichs zu disziplinieren galt, sondern lange bis in unsere Zeit. Ein individuelles Schmerzempfinden sprach man Säuglingen ab. Bis in die achtziger Jahre operierte man sie oft ohne Anästhesie.
Tatsächlich ist dank einer verbesserten medizinischen Versorgung, dank umfassender Erhebungen von Daten für Vorsorge und Früherkennung, aber auch aufgrund einer Verfügbarkeit qualitativ hochwertiger Nahrungsmittel das durchschnittliche Lebensalter in Deutschland und den westlichen Ländern spürbar gestiegen. Dies ist nicht zuletzt der gesunkenen Säuglingssterblichkeit zu verdanken. In den sechziger Jahren lag sie in Deutschland über jener der meisten anderen westlichen Industrieländern, und sie nahmerst ab, als Mutterschaftsvorsorgeuntersuchungen, die Betreuung von Risikoschwangerschaften und Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten im Säuglingsalter eingeführt wurden. Ende der achtziger Jahre war Deutschland in die Gruppe der Länder mit den weltweit niedrigsten Werten aufgerückt. 1950 starben von 1000 Neugeborenen noch 55. 1990 lag die Zahl bereits bei unter zehn. Heute sind es nur noch vier von 1000 Neugeborenen, die das erste Lebensjahr nicht erreichen. 78
Wer die Dimensionen und Auswirkungen der modernen Geburtsmedizin verstehen will, muss bis zur Jahrhundertwende, der Entstehungszeit der Kindertotenlieder zurückgehen. Jedes fünfte Neugeborene erlebte den ersten Geburtstag nicht. Kaum vorstellbar, aber um 1900 starben im Deutschen Reich jedes Jahr etwa 400000 Kinder, wobei ein Gutteil auch auf Unter- und Fehlernährung zurückzuführen war. Ihren Höhepunkt hatte die Kindersterblichkeit in Deutschland zur Zeit der Reichseinigung, also um 1870. 79 Bei gestillten Säuglingen betrug die Sterblichkeit sechs Prozent, bei nicht gestillten 46 Prozent. Dass sich dieses Verhältnis im Laufe der folgenden Jahrzehnte ausgleichen sollte, spricht Bände hinsichtlich der gewonnenen Möglichkeit, Muttermilch zu kompensieren.
Zwischen 1900 und 1960 war es nicht nur zu einer sukzessiven Verbesserung der Geburtshilfe gekommen, sondern zur Verbesserung der Medizin im Ganzen, aber auch der sozialen Bedingungen. Bei komplizierten Geburten wurden etwa Kaiserschnitte zur Routine. Auch das Ausgleichen der sozialen Härten sowie Aufklärungskampagnen am Anfang des
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