Das gruene Gewissen
20. Jahrhunderts, in deren Folge Pflege- und Ernährungsfehler vermieden wurden, dürften dazu beigetragen haben. So wurden in dieser Zeit zahlreiche Wöchnerinnen-Asyle, Milchküchen, Säuglingsheime und Entbindungsstationen eingerichtet.
Impfen als Religion
Zu den Bildern meiner eigenen Kindheit gehören kurze Lederhosen und aufgeschlagene Knie. Beim Fußball rannten wir über den Schotterplatz und schlugen hin, in den Schürfwunden blieben kleine Steinchen stecken. Man desinfizierte die Wunden später mit Betaisodona. Ich mochte nicht nur den Namen, sondern auch die Konsistenz und dunkle Farbe, die wie flüssiger Schorf aussah.
Gegen Tetanus ist bis heute kein Kraut außer einer Impfung gewachsen, da nicht das Bakterium krank macht, sondern die Toxine, die es produziert. In Afrika ist Tetanus bei Neugeborenen infolge schlechter hygienischer Bedingungen eine häufige Todesursache nach der Geburt. 180000 Neugeborene sterben laut WHO jährlich vor allem in Afrika und Asien, Eintrittspforte ist dabei zumeist der Nabel nach Durchtrennung der Nabelschnur.
Tetanus ist das eine. Wer heute seine Facharztprüfung als Kinderarzt ablegt, muss damit rechnen, von der zuständigen Prüfungskommission wieder zur Tuberkulose gefragt zu werden – jener Krankheit, an der ausgerechnet ein Vorreiter und in Deutschland beliebter Stichwortgeber heutiger Aussteiger im Alter von 44 Jahren starb, der am Ende dieses Buches noch gebührend gewürdigt wird: Henry D. Thoreau. Dieses Prüfungsthema ist insofern bemerkenswert, als in Prüfungen in der Regel nur im klinischen Alltag relevante Krankheitsbilder für den angehenden Pädiater abgefragt werden.
Ist dies ein Zeichen dafür, dass in der Pädiatrie in Deutschland immer mehr Tuberkulosefälle wahrgenommen werden? Tatsächlich ist die Zahl der Tuberkulose-Erkrankungen in Deutschland seit Jahren nicht gestiegen, wenn sich die Anzahl der Betroffenen auch nur langsam verringert beziehungsweise ein Plateau mit besonders resistenten Stämmen erreicht hat. Die Gesamtzahl der Erkrankungen ist seit mehreren Jahren nahezu konstant, während infrüheren Jahren jährlich ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen war.
Für die Kinderheilkunde ist das Thema Tuberkulose wie manches Impfthema aber deshalb von so entscheidender Bedeutung, weil Kinder hinsichtlich der hohen Ansteckungsgefahr und der Symptome besonders gefährdet sind. Und hier ist der Trend ein gegenläufiger: Die Ansteckungen bei Kindern nehmen nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI), der zentralen Einrichtung der Bundesregierung auf dem Gebiet der Krankheitsüberwachung und Prävention, zu. Aufgrund der Schnelle der Infektionen bei Kindern ist dies möglicherweise ein Indikator für das aktuelle Infektionsgeschehen in Deutschland. „Dies könnten erste Hinweise auf eine mögliche Stagnation oder sogar einen Wiederanstieg der Erkrankungszahlen in den kommenden Jahren sein, wie dies in einzelnen Ballungsräumen in Deutschland bereits beobachtet werden kann“, heißt es dazu in einem RKI-Pressetext vom Frühjahr 2012. 80
Kinder als Indikator von Krankheiten und gesellschaftlichen Trends? Wenn dem so ist, dann sollte die Haltung vieler Eltern bedenklich stimmen, die auch in Bezug auf andere Erkrankungen insbesondere in deutschen Großstädten zu beobachten ist. Krankheiten wie Keuchhusten, die für Neugeborene ein in der Sprache der Mediziner „vitales Risiko“ darstellen, sind ebenso zurückgekehrt wie Masern. Denn in manchen Kindertagesstätten überwiegt die Zahl der bewusst nicht geimpften Kinder heute die der anderen, wenngleich dies keinesfalls für ganz Deutschland gilt. Und wenngleich „mehrheitlich geimpft“ noch lange nicht „genug geimpft“ heißt.
„Hamburg ist einer der Hotspots für Masern“, sagt Jacob Cramer. Der Internist und Tropenmediziner vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf leitet am renommierten Bernhard-Nocht-Institut (BNI) eine Arbeitsgruppe zu Impfstudien, beschäftigt sich aber auch mit anderen Infektionserregern in Deutschland und in Afrika. Sein Institut liegt in einem Backsteinbau in der Nähe der Landungsbrücken in Hamburg, unweit desneuen Empire Riverside Hotels, das der britische Architekt David Shipperfield entworfen hat und von dem man einen imposanten Blick auf den Hafen und die Elbe hat. Es ist eine der Ecken von St. Pauli, in denen die Mietpreise bereits oben sind und der Kiez sein altes Gesicht verloren hat. Gentrifizierung nennt man das in den schönen
Weitere Kostenlose Bücher