Das Hagebutten-Mädchen
Hauptverkehrsstraße, den kann ich nicht einfach herumliegen lassen.«
»Es ist überhaupt nicht schlimm, dass ich dieses Gespräch so holterdipolter beenden musste«, beschwichtigte Wencke. »Es ging um die Stelleneinsparung in unserer Abteilung. Und da außer mir keiner von uns einfach so auf die Insel konnte, weil wir alle bis zum Hals in Arbeit stecken, werden die hohen Tiere aus Hannover uns unmöglich noch einen Kollegen wegrationalisieren können.«
Sanders lachte. Er sah irgendwie merkwürdig aus, dachte Wencke. Ob er krank war?
Sie winkte die Kollegen von der Spurensuche zu sich. Axel Sanders hatte einen urigen Handkarren mitgebracht, in den sie ihre aufwendige Ausrüstung und die kleine Reisetasche verfrachten konnten. Sanders zog den Bollerwagen hinter sich her, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Dabei sah er ein wenig aus wie ein Gaul vor der Kutsche.
»Im Schaufenster, sagten Sie?« Sie gingen gemeinsam durch die Deichscharte, dahinter führte die gepflasterte Straße direkt zum Inseldorf. Links und rechts, wie zwei Wegweiser, die rote und die grüne Leuchttonne.
»Ja, sieht aus, als würde er schlafen. Der Inselarzt ist natürlich kein Gerichtsmediziner, doch er vermutet, dass Kai Minnert in dem engen, abgeriegelten Raum erstickt ist. Wir fanden den Toten so gegen sieben, und da war er noch nicht lange tot, nicht länger als anderthalb Stunden.«
»Und, kannten Sie ihn?«
Er schaute sie von der Seite an. »Ja, natürlich kannte ich ihn. Ich glaube, ich kannte nach einer Woche schon so ziemlich jeden Insulaner, weil sie hier alle bei Dunkelheit ohne Licht am Fahrrad fahren und ich sie jede Nacht gestoppt und abkassiert habe.«
Wencke lachte. So sehr hatte er sich vielleicht doch nicht verändert. Korrekt wie eh und je.
»Nein, im Ernst, natürlich kannte ich ihn. Jeder kannte ihn hier. Kai Minnert, ich schätze sein Alter auf Ende vierzig, war so etwas wie ein Juister Original. Er war, wie soll ich sagen, ziemlich redegewandt. Und er hatte auch ziemlich viel zu erzählen.«
»Haben Sie seine Familie schon benachrichtigt? Hat er Frau und Kinder?« Wencke hoffte, dieser Canossagang würde ihr erspart bleiben.
»Kai Minnert hat keine Familie. Er war schwul.« Sanders sagte das in einem wichtigtuerischen, lauten Ton, als müsse die ganze Welt darüber Bescheid wissen, welche sexuelle Orientierung sein toter Insulaner im Schaufenster gehabt hatte. »Sein Lebensgefährte hat uns die Schlüssel für den Laden gegeben, damit wir hinein konnten, der weiß also schon Bescheid, wie übrigens inzwischen auch die ganze Inselbevölkerung. So etwas macht hier schnell die Runde.«
»Und seine Eltern, soweit er noch welche hatte?«
Als Sanders kurz stehen blieb, um die Hand, mit der er die Karre zog, zu wechseln, rutschten die Metallkoffer durch den abrupten Stopp nach vorn. »Sind schon verstorben, soweit ich informiert bin.«
Nun erkannte Wencke plötzlich, was ihn so merkwürdig aussehen ließ, abgesehen von seinen roten Augen und der Übernächtigung. »Was haben Sie eigentlich mit Ihren Haaren gemacht, Kollege?«
Unwillkürlich strich sich Sanders mit der freien Hand durch die Strähnen, die wild und fusselig von seinem Kopf abstanden. Früher hatte er stets glatt nach hinten frisiertes Haar gehabt, nun sah er aus, als hätte er seit seiner Versetzung nach Juist keinen Kamm in der Hand gehalten. »Ach, das ist mir ein bisschen unangenehm. Der Zeuge, der die Leiche heute Morgen aufgefunden hat, hat mich unter der Dusche hervorgeholt und da hatte ich keine Zeit mehr, mich anständig…« Er unterbrach sich. »Es ist manchmal ganz schön hart, wenn man der einzige Ordnungshüter weit und breit ist und immer – ob Tag oder Nacht – parat sein muss.«
»Das glaube ich gern«, sagte Wencke. Sie hatte Mühe, in ihrem Rock seinem energischen Schritt zu folgen, zudem waren ihre Lederschuhe nicht gerade ideal für das holperige Juister Straßenpflaster. Als sie den Kurplatz erreicht hatten und direkt am gähnend leeren Schiffchenteich links in die Wilhelmstraße bogen, spürte sie hin und wieder seinen Blick. Dummerweise stolperte sie über einen unebenen Stein und fluchte leise, weil es alles andere als souverän aussehen musste, wie sie hier in den Inselort marschierte.
»Frau Tydmers?«
»Hmm«, entgegnete sie missmutig.
»Ich freue mich sehr, dass ausgerechnet Sie auf die Insel gekommen sind. Wirklich!« Sanders holte noch einmal tief Luft. »Und Sie sehen ziemlich gut aus
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