Das Hagebutten-Mädchen
Liebhaber dafür findet. Der Klang ist nämlich nicht so berauschend, nur das Material: Ebenholz mit vergoldeten Metallverschlägen, Elfenbeinplättchen auf den Tasten, dann die Schnitzerei… alles vom Feinsten! Sollte sich herausstellen, dass es wirklich dem großen Novellisten des neunzehnten Jahrhunderts gehört hat, dann könnte vielleicht noch ein Tausender mehr dabei herausspringen.«
Astrid stellte das Buch zurück ins Regal. »Viel Geld für einen Akkordeonverein!«
Henner kam langsam auf sie zu. »Sag mal, was geht in deinem Kopf vor? Irgendwie habe ich den Eindruck, du bereust es schon, zu mir gekommen zu sein.«
Bereute sie es? Astrid musste einen Moment darüber nachdenken, zu viel war in den letzten Stunden geschehen. »Nein, ich bereue nur, nicht schon viel eher einmal vorbeigekommen zu sein. Die Sache von damals war es nicht wert, dass ich so gar nicht an deinem und Kais Leben teilgenommen habe.«
Henner schob ihre Teetasse zur Seite und setzte sich direkt vor sie auf den Glastisch, das Kinn auf die Hände gestützt, die blauen Augen direkt auf sie gerichtet. »Dein Sohn hat sich ja regelmäßig hier blicken lassen und ich denke, Kai und ich haben zwei ganz anständige Onkels abgegeben. Gerrit war auch mit dabei, ich mag ihn, er ist ein feiner Kerl. Ich habe dich also nie aus den Augen verloren, Astrid, ich habe irgendwie immer an deinem Leben teilgenommen, wenn auch unsichtbar.« Nun fassten seine Hände nach ihren Armen, die sie steif und eisern vor ihrer Brust verschränkt hatte. Henner löste gefühlvoll den Knoten und hielt ihre Finger sanft fest, begutachtete ihren Handrücken, den schlichten Ring, die ersten Spuren der vielen Arbeit. »Trotzdem bin ich wirklich unendlich glücklich, dass du heute zu mir gekommen bist. Ich glaube, sonst wäre ich durchgedreht.«
Er weinte nicht. Er zog sich nur langsam von ihr zurück, verkroch sich hinter einem unnahbaren Schweigen. Da Astrid wusste, dass es besser war, ihn nun allein zu lassen, entzog sie ihm die Hand, erhob sich und räumte leise und langsam das Geschirr vom Tisch. Als sie gespült und sich die Jacke angezogen hatte, blickte sie noch einmal in die Stube, wo er noch immer auf dem Glastisch saß, die Hände nach vorn ausgestreckt, so als säßen sie sich noch gegenüber.
Er merkt gar nicht, ob ich da bin oder nicht, zumindest in diesem Augenblick, dachte Astrid.
Sie wollte wiederkommen, morgen vielleicht, doch auf jeden Fall würde sie wiederkommen und ihn nach diesem Akkordeon fragen. Und warum es versteckt werden musste. Jetzt war nicht die Zeit dazu, also hüllte sie das schwere Ding in eine Decke und trug es zu sich nach Hause.
Samstag, 20. März, 14.35 Uhr
W encke schloss ihre Augen und genoss den kurzen Augenblick, den sie, abgesehen von Sanders, allein im Zimmer war. Seit vier Stunden ging es hier zu wie im Taubenschlag und abgesehen von der knappen halben Stunde, die sie beim sichtlich verstörten Henner Wortreich und seiner rührend besorgten Schwester verbracht hatte, waren es nur Gesichter und graue Wände gewesen, die sie zu sehen bekommen hatte. Die ganze Zeit hindurch hatte sie die Sonne durch die Gardinen scheinen sehen, und jetzt erinnerte sie sich wehmütig an die Bank unter der Silberpappel, auf der sie bei ihrem letzten Fall auf Juist mit dem Koch vom Hotel Dünenschloss gesessen hatte.
Sie öffnete die Augen wieder. Ja, das war es, was sie wollte. Ein wenig frische Luft, ein wenig Stille, ein wenig Nikotin in ihrer Lunge.
»Entschuldigen Sie mich, Sanders, ich gehe mal kurz hinaus.«
Mit knurrendem Magen ging sie die wenigen Schritte bis zu dem einladenden Plätzchen. Die Pappel zeigte sich noch ohne Blätter, doch aus den weißgrauen Ästen wuchsen schon die ersten pastellfarbenen Ansätze heraus. Sie waren nicht genug für einen Schatten, und als sie sich setzte, bekam sie die Sonne direkt ins Gesicht. Das war nicht schlimm, im Gegenteil, sie konnte ja die Augen schließen und die Wärme der Strahlen genießen.
Seit heute Morgen hatte sie nichts zwischen den Zähnen gehabt außer einem sauren Apfel, den sie sich vorsorglich in die Handtasche gesteckt hatte. Wencke kannte diese Tage. Man redete und hörte zu, man dachte nach und wurde von Neuigkeiten überrumpelt, und man vergaß dabei sich selbst. Essen, Trinken und sogar der Gang zur Toilette wurden hinausgezögert und als unwichtig abgestempelt, wenn es darum ging, die richtige Spur zu finden.
Vielleicht waren dies die besten Tage für Wencke. Unter Strom
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