Das Hagebutten-Mädchen
Tisch vor seinem vierten Bier und starrte auf die Leinwand, wo inzwischen der Auftritt der Wangerooger Theatergruppe zu bewundern war. So ein Mist, dachte er. Dieser Mord hatte alles durcheinander gebracht. Es ergab sich einfach keine Gelegenheit, mit einem Vorstandsmitglied des Heimatvereins ein paar freundschaftliche Schnäpse zu trinken. Er hatte es ja schon versucht, hatte dem Schatzmeister auf die Schulter geklopft und »Kopf hoch!« gesagt. Mit dem Schriftführer hatte er ein paar würdige Zeilen für die Todesanzeige im Ostfriesischen Kurier erdacht, doch sein eigenes Anliegen hatte er nicht vorbringen können. Vierzig Stunden noch, dann ruft Johannsen wieder an und fragt nach dem Inselhuus, und er wird ihm wahrscheinlich sagen müssen, dass er den Auftrag nicht erledigen konnte.
In zwei Stunden fuhr die Fähre und mit ihr die Norderneyer Döntje-Singer, zu denen er ja schließlich offiziell gehörte und die ihm so etwas wie eine Aufenthaltsberechtigung in diesen Kreisen hier gaben. Eigentlich müsste er also ebenfalls abfahren, wenn er nicht aufdecken wollte, was für ein eigennütziges Kameradenschwein er doch war, das sich im Grunde nichts aus geselligen Runden machte, sondern nur ein saugutes Geschäft abschließen wollte.
»Noch’n Bier«, brummte er dem jungen Kellner zu.
»Sehr gern«, sagte dieser und schien ihn mit seinem freundlichen Tonfall foppen zu wollen. »Und zahlen!«, befahl Bonnhofen in noch verstimmterer Laune. Merkwürdig war es nur, Kai Minnert auf der Leinwand zu sehen, wie er quicklebendig das Mikro vor den grinsenden Mund hielt und den Witz von den drei Insulanern erzählte, die sich im Himmel bei Petrus trafen. Die Pointe war gut, gelungen vorgetragen, die Kamera schwenkte über das grölende Publikum und Kai Minnert begann zufrieden mit dem nächsten Kalauer. Er hatte eine grüne Medaille um den Hals hängen, weil er ja schließlich gestern Abend zum Grünkohlkönig ernannt worden war. Minnert hatte fünf Portionen verdrückt, mit Kartoffeln und Pinkelwurst und Griebenschmalz. So lebendig war er gewesen, dass man sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass er nun mausetot war und sein Mageninhalt in einem Labor untersucht wurde.
Igitt, Tjark Bonnhofen schob seine makabren Gedankengänge beiseite und kramte nach seiner Geldbörse. Die Fahrkarte, die er ins Scheinfach gesteckt hatte, fiel heraus, segelte unter den Tisch, und als er sich danach bückte, kam ihm eine Idee, wie er die Rückfahrt vielleicht doch noch verzögern konnte. Um ein paar Stunden, vielleicht auch um einen ganzen Tag, ganz egal, jede Stunde zählte, wenn er sein Ziel erreichen wollte. Die Schiffe zwischen Norddeich und Juist gingen nur bei Hochwasser, wenn er also die nächste Abfahrt hinauszögern könnte, würde das Wasser irgendwann für die Fähre nicht mehr hoch genug sein, dann hätte er also bis zur nächsten Flut eine Menge Zeit gewonnen. Wertvolle Zeit in ungezwungener Bierlaune, in geselligem Beisammensein mit den maßgeblichen Leuten. Dieses Inseltreffen schuf einfach die besten Voraussetzungen für Geschäftsgespräche, bei denen es um viel Geld und einige Heimlichkeiten ging.
Die allgemeine Bestürzung über Minnerts Tod hatte ihm zwar schon genug Ärger eingehandelt, aber es konnte auch von Vorteil sein, dass er nun auf ewig schwieg. Sicher, es war schäbig, einem Verstorbenen falsche Worte in den Mund zu legen. Aber manchmal musste man schäbig sein auf dem Weg nach oben.
Samstag, 20. März, 14.34 Uhr
E in junges Mädchen, zu zart für die harte Arbeit, die ihr im Elternhaus aufgezwungen wurde, flüchtete sich bei Niedrigwasser auf eine Insel im Wattenmeer. Sie hatte nichts in ihren Taschen bis auf eine Hand voll Hagebutten, die sie an der Kirche, in der sie getauft worden war, gepflückt hatte. Die Insulaner waren schon immer ein Volk für sich, das sich schwer tat mit Fremden. Deshalb beäugten sie das Kind vom Festland misstrauisch. Die Männer fühlten sich angezogen von dem elfenhaften Wesen mit seiner aufkeimenden Weiblichkeit in dem ach so feingliedrigen Mädchenkörper. Die Frauen jedoch, gebeugt und verhärmt vom harten Inselleben, hassten die Unbekannte, neideten ihr die seidige Haut und jagten sie davon. Den Männern sagten sie, das Mädchen habe im Meer ihr Grab gesucht. Doch in Wahrheit wussten sie, dass es am Ostende der Insel lebte, sich von Beeren, Fisch und Möweneiern ernährte und nicht wagte, je wieder zu den Menschen zurückzukehren. Jahre später überschwemmte
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