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Das Hagebutten-Mädchen

Das Hagebutten-Mädchen

Titel: Das Hagebutten-Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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zu stehen war für sie ein gutes Gefühl. Heute jedoch nicht. Heute war es anders. Ach, seit ein paar Wochen war es anders. Verdammt, konnte dieses Perpetuum Mobile im Kopf nicht einmal zum Stillstand kommen? Job… Zukunft… Familie… Partner… Kinder… Job… Zukunft… Ein Gedanke schubste den nächsten an und dieser setzte wieder eine Idee in Bewegung, bis dann zum Schluss da dieses Fragezeichen stand. Sie wusste einfach nicht, an welchem Punkt sie anfangen sollte, wenn sie ihr Leben in eine andere Richtung lenken wollte. Wenn sie dann an Sanders dachte, der immer genau zu wissen schien, wohin er gehen wollte, dann wünschte sie sich tatsächlich, ein bisschen mehr wie er zu sein. Ein bisschen weniger chaotisch, ein bisschen weniger gefühlsduselig. Vor einem halben Jahr hatte sie ihn nicht ausstehen können deswegen, nun beneidete sie ihn insgeheim ein wenig.
    Plötzlich stand er neben ihr, sie war hinter ihren geschlossenen Augen so in Gedanken verheddert gewesen, dass sie ihn gar nicht hatte kommen hören.
    »Ich habe uns Knäckebrote geschmiert. Viel gibt mein Kühlschrank heute Morgen nicht her, leider. Mögen Sie lieber Salami oder Käse?«
    »Salami, bitte!«, entfuhr es Wencke dankbar. Nichts hätte in diesem Moment besser schmecken können. Für dieses Angebot drückte sie sogar die halb aufgerauchte Zigarette aus. Zwei Becher Kaffee hatte Sanders ebenfalls dabei, die er nun beinahe verlegen vor ihre Füße auf den Boden stellte. Er schien zu zögern, da er wahrscheinlich spürte, dass sie eigentlich ein paar Minuten allein hatte sein wollen. Seine Unentschlossenheit war wirklich charmant. Sie nahm ihre Zigarettenschachtel von der Bank und nickte ihm zu, woraufhin er sich neben sie setzte. Kurz schielte Wencke zu ihm herüber. Die Sonne schien in sein Gesicht und er hatte die Augen geschlossen, genau wie sie vorhin. Sicherlich ging es ihm ähnlich, dass er auch nicht zufrieden mit dem Verlauf des Tages war und sich fragte, was man anders machen könnte. Warum war ihr noch nie seine kleine Narbe über dem rechten Ohr aufgefallen? Und dass seine Augenbrauen aussahen wie gezupft? Nun, vielleicht zupfte er sie wirklich, passen würde es zu ihm, eigentlich war er ja ein unausstehlicher Typ. Was hatte sie gerade eben noch für einen Unsinn gedacht? Sie wollte wie Sanders sein? Schwachsinn! Er war doch ein neunmalkluger Pedant, ein neidischer Besserwisser, ein ehrgeiziger Egomane.
    Sie dachte an diese Diagramme, die er zu Auricher Zeiten immer angefertigt hatte. Es waren irgendwelche starren, systematischen Balkendiagramme auf Millimeterpapier, die rein rechnerisch die Verdächtigen in einem Fall überführen sollten. Und er hatte diese unverständlichen Zeichnungen immer hervorgekramt, wenn sie gerade mit ihrem Latein am Ende gewesen war. Wenn Wencke den Fall als verfahren und unlösbar empfunden hatte, dann hatte er ihr jedes Mal diese in Klarsichtfolien aufbewahrten Blätter unter die Nase gehalten und von strategischen Vorgehensweisen gepredigt. Und nicht ein einziges Mal hatte er dem Team auf diese Weise irgendwie weitergeholfen. Seine Diagramme waren nichts als Schmierpapier, und doch hatte er sie stets eingesetzt wie eine Waffe, hatte damit auf die Kollegen gezielt und den Eindruck erweckt, er sei der Einzige, der den Fall im Griff hatte. Und dafür hatte sie ihn immer schon gehasst. Na ja, vielleicht nicht gerade gehasst, aber… doch: Sie hatte ihn dafür gehasst!
    Was schade war, denn er sah gut aus, so im Sonnenlicht, mit notdürftig zurückgekämmten, immer noch widerspenstigen dunklen Haaren und Knäckebrotkrümeln auf der Unterlippe.
    »Das war ein bisschen viel auf einmal, meinen Sie nicht?«, sagte sie schließlich, nachdem der erste Schluck Kaffee ihr wieder Lust aufs Reden gemacht hatte. »Wie viele verschiedene Mordmotive haben unsere Zeugen heute zu Protokoll gegeben?«
    »Fünf bis sechs«, sagte Sanders, plötzlich grinsend.
    »Verletzte Eitelkeit, Neid, Homosexuellenhass, Habgier, alles war dabei. Sogar die Juister Krimiautorin ist verdächtig, weil sie angeblich schon mal einen Roman mit ähnlichem Tathergang beschrieben hat. Es ist grandios, nicht wahr?«
    Wencke nickte müde. »Die Sache mit dieser Astrid Kreuzfeldt scheint mir von allem noch am wahrscheinlichsten. Haben Sie den harten Zug um ihren Mund bemerkt? Scheint nicht oft zu lachen, die Arme. Auf mich machte sie einen etwas verbissenen Eindruck. Obwohl ich sie nicht unsympathisch fand, eher unsicher und still, keine rasende

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