Das Hagebutten-Mädchen
eine gierige Sturmflut die Insel, nahm Häuser und Tiere, Kirchen und Kinder mit sich, und die Insulaner waren gezwungen, ein neues Dorf zu errichten. Hungernd schauten sie sich auf ihrem geschundenen Eiland um und fanden nur die Bisswunden des Meeres. Sie wollten schon umkehren, ihre Sachen zusammenpacken und die geliebte Insel dem siegreichen Meer überlassen, da sahen sie ein Dünental, welches so friedlich und unbeschadet vor ihnen lag, als wäre die Zerstörung des Eilandes nur ein böser Traum gewesen. Eine fremde, kräftige Rose hatte ihre dicken Wurzeln im sandigen Boden verankert, hatte mit mächtigen, dornigen Ästen dem Wind ein Durchkommen verwehrt. Verwundert näherten sich die Inselbewohner, stachen sich die Finger blutig, als sie das unbekannte Gewächs berührten, und schließlich sangen sie und jubelten, da ihre Insel von diesem Rosenstrauch gerettet worden war. Die prallen, roten Hagebuttenfrüchte schmeckten süß und gaben Kraft, sodass sie aus den Backsteinen ihres alten Dorfes bald ein neues bauen konnten. Es lag von nun an sicher und geschützt im Rosental, und die Hagebuttensträucher breiteten sich auf ihrer Insel aus und gaben ihr Halt, sodass die Nordsee stumpfe Zähne bekam und von dem kleinen Eiland abließ. Das Hagebutten-Mädchen aber hatte man nie wieder gesehen. Man munkelt, es wäre bei schweren Sturmfluten auf den Dünen der Insel zu sehen, von wo es traurig und einsam auf das Inseldorf hinabschaut.«
Astrid schwieg. Sie trank nur stumm einen Schluck Tee, den sie für ihren Bruder zubereitet hatte, nachdem die Kommissarin und der Polizist gegangen waren.
»Eine schöne und grausame Legende, findest du nicht?«, fragte Henner, der sich nach seinem erneuten Zusammenbruch endlich wieder beruhigt hatte. Die Kommissarin hatte ihn ausgefragt, über Kai und den letzten Abend und ihre Beziehung und so weiter, nur zwanzig Minuten lang, doch ihm waren bei all den Fragen immer wieder die Tränen gekommen.
»Kommen dir die Motive bekannt vor? Sturmfluten und Einzelkämpfer und mystische Erscheinungen in windigen Nächten?« Henner stand auf und ging zum Bücherregal, wo er nicht lang suchen musste, bis er ein kunstvoll gebundenes Buch in den Händen hielt. »Der Schimmelreiter, von Theodor Storm. Eine der ganz großen Novellen von der deutschen Nordseeküste. Sie erzählt auch von einem Einzelkämpfer, Hauke Haien, dem Deichgraf, der die abergläubischen Dorfbewohner von seinem neuen Deich überzeugen will. Er kommt schließlich in den Wellen um und sucht von dort an als geisterhafter Reiter die Küste heim. Klingt doch ziemlich ähnlich, meinst du nicht?«
Astrid nickte wieder nur stumm und nahm das teure Buch aus seinen Händen. Seine Finger zitterten leicht, doch die Geschichte schien ihn ein bisschen abzulenken. Sie meinte sogar ein wenig Leben in ihm aufflackern zu sehen. Die Geschichte musste ihn auf irgendeine Weise begeistern, auch wenn das Lächeln nur schmal und kaum wahrnehmbar seine Lippen umspielte.
»Aus diesem Grund glaubt man, dass die Legende vom Hagebutten-Mädchen ebenfalls von Theodor Storm stammt und er sie vor dem Schimmelreiter, also zirka 1886, geschrieben hat. Ein interessanter Gedanke, oder?«
»Und was hat es jetzt mit diesem Akkordeon auf sich?«, fragte Astrid, nachdem sie durch ein Räuspern endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte.
»Ach, es ist ein ziemlich altes Instrument, Kai schätzte es auf 1885 bis 1890. Soweit ich weiß, ist es eines der ersten Pianoakkordeons, also ein Handzuginstrument mit Klaviertasten an der einen Seite. Vor vier Wochen hat er es vom Langeooger Akkordeonverein zur Restaurierung zugeschickt bekommen. Tja, und die haben es von einem Insulaner vererbt bekommen, der ursprünglich aus Hademarschen in Holstein stammt, übrigens der Ort, an dem Theodor Storm 1888 verstorben ist. Und jetzt kannst du doch eins und eins zusammenzählen.«
»Gut, du meinst also, dieses Akkordeon war vielleicht einmal im Besitz Storms oder zumindest soll es ein Beleg dafür sein, dass diese Hagebutten-Mädchengeschichte aus seiner Feder stammt.« Astrid wusste, dass sich ihr Bruder zumindest vor fünfzehn Jahren niemals für solche Dinge begeistert hatte, und sie bezweifelte, dass die Beziehung mit dem auf diesem Gebiet gebildeten Kai Minnert etwas an seinem Desinteresse geändert haben mochte. »Nun mal Klartext, wie viel ist es wert?«
Er lächelte traurig. »Was du auch immer gleich denkst, Astrid. Vielleicht acht bis zehntausend Euro, falls sich ein
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