Das Hagebutten-Mädchen
Verzweiflung, doch sie schaffte es zu lächeln. Sollte er seine heile Welt so lange wie möglich behalten. In diesem Moment wusste sie selbst ja noch nicht einmal, wohin es von nun an ging.
»Ich bin bei Seike Hikken, die Telefonnummer steht an der Pinnwand. Sag Papa, er soll sich heute ums Mittagessen kümmern. Ich habe keine Ahnung, wann ich wieder nach Hause komme.« Sie lächelte immer noch, um ihn nicht zu beunruhigen.
Michel hüpfte unbekümmert zur Garderobe, steckte seine kleinen Füße in die ausgetretenen Sportschuhe, ohne die Schnürsenkel zu öffnen, warf sich die Jacke hastig über und verschwand mit einem »Tschüs, bis heute Abend!« aus der Tür.
Heute Abend, dachte Astrid. Was wird heute Abend sein?
Sonntag, 21. März, 9.12 Uhr
E s gibt Nächte, die können ein Leben verändern.
Und Axel Sanders hatte das Gefühl, die letzte sei genau so eine Nacht gewesen.
Er hatte schon viele Abenteuer zwischen Laken und Bettdecke erlebt, viele kleine, zärtliche Ringkämpfe ausgefochten, doch nichts hatte ihn je dermaßen aus dem Konzept gebracht wie der nackte Körper, der sich bis vor einer guten Stunde so weich an den seinen geschmiegt hatte.
Jetzt liefen sie nebeneinander den neu gepflasterten Teil der Dellertstraße entlang, als wären sie sich noch nie begegnet. Sie siezten sich noch sturer als in all den Jahren zuvor.
Sanders war kurz davor zu verzweifeln. Natürlich war es peinlich, natürlich. Doch es gab keinen wirklichen Grund, sich zu schämen. Dazu war es viel zu schön gewesen.
Das Einzige, was ihn daran hinderte, den Arm um die immer noch leicht verwirrte Frau zu seiner Linken zu legen, war der Gedanke an Seike Hikken und das Kind, das er ihr allem Anschein nach gemacht hatte. Und ausgerechnet zu ihr waren sie soeben unterwegs.
Nachdem sie in Minnerts Laden mehr als eine halbe Stunde vergeblich nach dem besagten Akkordeon gesucht hatten, versprachen sie sich Aufklärung von Henner Wortreich und – ausgerechnet von Seike.
»Haben Sie gestern Abend noch mit ihr gesprochen?«, wollte Wencke mit rau belegter Stimme wissen. Sie wandte sich kurz zu ihm und die schon wieder eifrig strahlende Märzsonne ließ die Pupillen ihrer hellgrünen Augen zu klitzekleinen Punkten werden.
Er konnte nicht den Blick von ihr wenden und wäre beinahe über eine lose Grassode am Bordsteinrand gestolpert. »Ich bin nicht dazu gekommen, wenn ich ehrlich sein soll. Nachdem wir das handschriftliche Protokoll mit diesem Gerold Dontjeer fertig und diese hundsgemeinen Schnäpse getrunken hatten, konnte ich Seike Hikken nicht mehr entdecken. Ihr Fahrrad stand zwar noch vor der Tür, doch sie und ihr Kind waren nicht mehr im Gastraum. Und dann…«, er zögerte. »Dann hatte ich auch alle Hände voll zu tun, um Sie heil in die Kutsche zu bekommen.«
»Hm, ach so, ja«, sagte sie hastig, schaute augenblicklich weg und starrte stattdessen auf ihre Füße, die in einem Paar Turnschuhe steckten, die er heute Morgen von der Frau des Zöllners ausgeliehen hatte, damit seine Kollegin nicht barfuß ermitteln musste. Da die Größe nicht ganz stimmte, musste Wencke ihre erstaunlich großen Füße auf eine Nummer kleiner beschränken. Dementsprechend mühselig ging sie nun auch die kleine Steintreppe hinauf, die zu einem schlichten, roten Backsteinhaus führte, welches halb in die bewachsene Düne dahinter gebaut worden war.
Sanders blieb stehen. »Wir können die Insulaner nicht ewig hier auf Juist festhalten, spätestens heute Abend müssen sie auf dem Schiff sitzen, sonst könnte es einen kleinen Aufstand geben.«
Wencke ging weiter die Stufen hinauf. »Ja und?«, entgegnete sie patzig. »Ist mir auch klar, Herr Kollege.«
»Wir sollten effektiver arbeiten, auch wenn wir nur zu zweit sind, dann haben wir eine Chance, den Fall so schnell wie möglich abzuschließen. Was halten Sie davon, wenn wir uns aufteilen, ich allein zu Seike Hikken gehe und Sie ihren Nachbarn Henner Wortreich zu unseren neuesten Erkenntnissen befragen?«
»Einverstanden«, antwortete sie knapp und er hatte gleich das Gefühl, dass sie froh war, ihn für einen kurzen Moment los zu sein.
»Wenn es etwas wirklich Wichtiges gibt, dann können wir uns ja gegenseitig…«
»In Ordnung!«, unterbrach sie. Klar, sie konnte das Wort »gegenseitig« nicht ertragen. Sanders seufzte.
»Wir treffen uns dann später im Büro!« Wencke Tydmers war schnell hinter der ersten Eingangstür verschwunden und er musste tief durchatmen, bevor er bei Seike Hikken
Weitere Kostenlose Bücher