Das Hagebutten-Mädchen
Wenn sie zu zweit oder zu dritt auf sie zugeprescht kämen, sie in die Dünen drängten, sie in die Enge treiben würden. Nein, dann wäre sie geliefert. Sie hatte doch Paul dabei.
»Mensch, Paul, bitte hör endlich auf zu heulen, sie soll doch nicht hören, dass wir kommen.«
Es war nicht mehr zu ertragen. Wann hörte sie endlich auf, diese verrückte Angst. Sie wusste, es war wahrscheinlich nur ein übertriebener Verfolgungswahn, den ihr das eigene schlechte Gewissen eingeflößt hatte. Die Moralapostel waren hinter ihr her, weil sie schon seit Jahren ein Verhältnis mit dem Mann ihrer Freundin hatte.
Wahrscheinlich war es lächerlich. Gut, man hatte sie erwischt, und dies war bislang ihre größte Furcht gewesen. Zum Glück war nur Kai es gewesen, der sie ertappt hatte. Vielleicht hatte er ja auch gar nichts erzählt. So makaber es auch war, aber er hatte ja nicht mehr viel Zeit, sein neu erworbenes Wissen an Astrid weiterzugeben. Trotzdem war ihr klar, dass es nun bald herauskommen würde. Das Ding mit Gerrit und ihr. Alle waren so aufgeregt, so nervös und verdreht wegen Kais Tod. Die Gefühle hatten schon den Siedepunkt erreicht. Da würde Astrid nicht mehr lang im Unklaren bleiben. Vielleicht war es sogar schon passiert. Vielleicht wusste sie inzwischen alles. Und was kam dann? Es wird ein schlimmes Ende nehmen, dachte Seike. Oder es wird nichts passieren. Vielleicht überlebte das Geheimnis auch diese Krise. Was war besser zu ertragen? Dass es einen gewaltigen Knall gab, oder dass alles so blieb, wie es war? Beides war schrecklich.
War da eine Gestalt? Ein Schatten, der in den Dünen unter den alten Hammerseebunkern kauerte? Bewegte sich nicht etwas langsam und schleichend, pirschte in Richtung Straße? Himmel, sollte sie anhalten? Oder noch schneller fahren? Seikes Atem ging kurz und stoßend, wie viel Kraft würde ihr noch bleiben für einen Sprint, die letzten zwölfhundert Meter bis zum Loogbauern?
»Mama!«, kreischte Paul. Er verriet sie. Es war Unsinn, anzuhalten. Wenn diese Bewegung zwischen den Gräsern tatsächlich eine Person war, vor der sie sich fürchten musste, dann durfte sie auf keinen Fall vom Fahrrad steigen und abwarten. Dann musste sie flüchten.
Und zwar sofort.
Das Kind schrie lauter. Der Nachtwind war beißend kalt, die Luft setzte sich eisig auf ihr Gesicht und auch auf Pauls. Kein Wunder, dass er sich nicht beruhigen konnte. »Du musst leise sein, mein Schatz, wir sind ja gleich da!«
Was war da auf der Straße? Lang und zu groß, um ein Kaninchen zu sein. Seike hielt darauf zu. Sie war viel zu schnell. Wäre sie ausgewichen, dann hätte sie mit dem zappelnden Paul am Lenker das Gleichgewicht verlieren können. Einfach geradeaus. Das Ding stob zur Seite, krächzte empört und verschwand im Dickicht, das den kleinen Entwässerungsgraben zur Rechten verdeckte.
»Nur ein Fasan!«, sagte sie zu Paul, doch der konnte ihre Worte wahrscheinlich gar nicht verstehen, weil er immer noch brüllte.
Sie schaute wieder zu den Dünen. Sie war weg. Die Gestalt. War es Astrid gewesen? Oder bildete sie sich diese Schreckensbilder nur ein? Seike hatte den schemenhaften Umriss aus den Augen verloren. War der Schatten bereits unten an der Straße? Sie hatte sich doch nicht getäuscht, da war etwas gewesen. Da hatte sich etwas auf einen Angriff vorbereitet. Und sie verschont.
Gott sei Dank, sie hörte das Rauschen des Klärwerks. Hier konnte sich niemand verstecken. Mannshohe Zäune trennten die Straße von der wilden Landschaft dahinter. Hier war sie in Sicherheit.
Endlich konnte sie langsamer fahren. Ihre Lungen schmerzten vom hektischen Luftholen. Der Schweiß auf ihrer Haut begann zu jucken. Und Paul hörte endlich, endlich auf zu schreien.
Es war noch nicht alles gut. Es würde viel Zeit brauchen, um irgendwann einmal wieder richtig gut zu sein. Seitdem Kai Minnert vor fünfundzwanzig Stunden an ihre Haustür geklopft hatte, war alles, was bislang gut gewesen war, aus den Fugen geraten. Hätte sie doch nie die Tür geöffnet. Dann wäre nichts herausgekommen und sie hätte keinen Grund gehabt, wie eine Wahnsinnige in der Nacht auf ihrem Fahrrad vor bedrohlichen Schatten zu fliehen.
Dann hätte sie den Zeitpunkt bestimmen können, wann Astrid die Wahrheit erfuhr. Denn eigentlich gab es keinen ungünstigeren Moment als jetzt.
Sonntag, 21. März, 8.12 Uhr
S ie wachte davon auf, dass ihre Backe ganz nass war von der Spucke, die ihr beim Schlafen aus dem Mundwinkel ins Kissen getropft
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