Das Hagebutten-Mädchen
klingelte.
Er wusste, er würde heute vielleicht einen schweren Fehler begehen. Zum ersten Mal in seiner Karriere kam er in Versuchung, die Regeln zu brechen. Dummerweise sah wirklich alles danach aus, dass Seike in den Fall verwickelt war. Er selbst hatte gestern mit diesem Gerold Dontjeer das Protokoll zu Ende verfasst, und darin war die Aussage enthalten, dass Kai Minnert am Freitagabend bei Seike Hikken gewesen war und dass irgendetwas in diesem Moment geschehen war, das Minnert aus der Bahn geworden hatte. Ein Geheimnis? Nun, so vertraut waren Seike und er auch nicht, als dass er behaupten könnte, alles über sie zu wissen. Natürlich, sie hatte nicht viel Geld, sie konnte sich mit ihrem Sohn keinen großen Luxus leisten, lebte auf ziemlich engem Raum, fuhr nie in den Urlaub, trug nicht gerade Designerkleider. Doch bislang war sie ihm immer glücklich und zufrieden erschienen. Vielleicht gab es also tatsächlich etwas, das sie vor ihm zu verbergen gesucht hatte und das bei Minnerts abendlichem Besuch ans Licht gekommen war. Wenn Seike Hikken ihm gleich irgendetwas gestehen würde, mit dem sie sich selbst belastete, dann würde er eventuell all seine Prinzipien über Bord werfen und diese Fakten drehen und wenden, vielleicht sogar komplett unterschlagen. Und dies war der eigentliche Grund, weswegen er Wencke Tydmers den Vorschlag mit den getrennten Ermittlungen unterbreitet hatte.
Er klingelte erneut. Warum öffnete sie nicht? Normalerweise lag der Schlüssel ziemlich einfallslos unter dem linken Blumenkübel, doch heute war dieses Versteck leer. Ihr Fahrrad stand neben der Tür und durch die Milchglasscheibe konnte er erkennen, dass der Kinderbuggy im Flur stand und in der Küche Licht brannte. Sie musste da sein.
Wenn diese Frau tatsächlich ein Kind von ihm erwartete, musste er alles tun, damit sie nicht in diesen Fall verwickelt wurde. Zumindest nicht offiziell. Alles sah danach aus, dass sie etwas wusste und bislang nicht die Gelegenheit genutzt hatte, es ihm beziehungsweise der Polizei zu erzählen.
Natürlich hatte er Skrupel. Ihm war beinahe schwindelig, so sehr raste sein Puls, wenn er daran dachte, dass er sie tatsächlich decken würde. Doch es ging um sein Kind. Es durfte keine Mutter haben, die mit Mord und Totschlag zu tun, die einen schwarzen Fleck auf dem polizeilichen Führungszeugnis hatte. Seike an sich war ihm dabei nicht so wichtig. Sie war zwar eine schöne Frau und er liebte das Frühstück auf ihrem Tisch, doch seine Gefühle waren bereits vergeben. Lange schon an dieselbe Frau. Doch dies war ihm erst heute Nacht bewusst geworden.
Er drückte ein drittes Mal auf den Klingelknopf.
Sonntag, 21. März, 9.23 Uhr
S eit einer halben Stunde schon saß Astrid Kreuzfeldt in der Küche und heulte lauter als Paul, der heute einen Pavianhintern von den sauren Gurken von gestern hatte. Und zu allem Überfluss klingelte es unaufhörlich an der Tür.
»Mach nicht auf, mach nicht auf!«, Astrid fasste sie am Arm. »Wir beide haben diese Sache zu klären, wir beide ganz allein.«
Der Auftritt hätte bravourös wirken können: Betrogene Ehefrau scheut nicht die Konfrontation und stellt Geliebte zur Rede. Doch ihr lief dabei der Rotz aus der Nase und ihre Augen waren so dick und rot, dass sie das eigentlich so hübsche Gesicht entstellten. Das Elend war nicht zu ertragen.
Und dabei kannte Astrid noch nicht einmal die ganze Wahrheit, dachte Seike, sie war noch tausend Tränen davon entfernt.
Es war schon fast so weit, dass Seike die Frau am liebsten in den Arm genommen hätte, um sie zu trösten. Um sie zu schonen vor den Dingen, die die ganze Situation noch schlimmer machen würden. Paradoxerweise fühlte sie sich mit Astrid noch nie so freundschaftlich verbunden wie in diesem Moment. Es lag wohl daran, dass die andere nun am Boden war und keine Gefahr mehr darstellte, keine Konkurrenz. Sie war nur noch bemitleidenswert.
Nun klopfte es. Paul tapste in den Flur und hörte auf zu weinen. »Attel, Attel!«, rief er erfreut.
Seike blieb in der Küche. Ihr Sohn liebte aus irgendwelchen ihr unerklärlichen Gründen Axel Sanders heiß und innig. Wohl war ihr nicht bei dem Gedanken, dass dieser Mann vor der Tür stand. Sie konnte nur hoffen, dass er lediglich wegen des obligatorischen Sonntagmorgenfrühstücks hier angetanzt war. »Es ist die Polizei. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als die Tür zu öffnen.«
Er klopfte und klingelte nun gleichzeitig, außerdem schien er Paul gesehen zu haben,
Weitere Kostenlose Bücher