Das Hagebutten-Mädchen
Kämpfenden nun spontan gegen sie zusammengeschlossen. Sie wollten sich wehtun, sie wollten sich in den Haaren liegen, die Haut zerreißen, die Augen auskratzen. Und Wencke störte sie dabei. Was war der Grund für diesen Hass, überlegte Wencke schnell, während sie sich vor einer fliegenden Faust duckte. Dies war mehr als eine hysterische Keilerei, dies war ein Krieg. Und sie selbst war mit wehenden Fahnen einmarschiert, um Frieden zu stiften.
Wo war Henner Wortreich? Hatte er sich aus dem Staub gemacht? War sie etwa ganz allein mit diesen beiden Verrückten?
»Ich bin Polizistin!«, hörte Wencke sich selbst schreien. Mit Schrecken erkannte sie, dass ihre Stimme inzwischen fast genauso hysterisch klang wie die der zwei Frauen. »Wenn Sie mich verletzen, so kann das strafrechtliche Maßnahmen nach sich ziehen.« Meine Güte, sonst schmiss Wencke nie mit solchen floskelhaften Drohungen um sich. Doch eine der beiden trat ihr unentwegt auf die Füße, und die taten wegen der viel zu kleinen Turnschuhe ohnehin schon weh genug.
Außerdem lief ihr etwas am Nacken herunter und sie vermutete, dass es sich dabei um Spucke handelte. Von wem der beiden auch immer, sie musste sich diesen fremden Sabber nicht gefallen lassen.
Endlich gelang ihr ein gekonnter Griff. Die Polizeischule war also doch nicht für die Katz gewesen! Sie bog einen nach ihr greifenden Arm nach hinten. Erst als Astrid Kreuzfeldt aufjaulte, wusste sie, wem diese Gliedmaße zuzuordnen war. Den grabschenden Griff der anderen wehrte sie mit einem gekonnten Handkantenschlag ab. Na also, Wencke hatte die Übersicht wieder gewonnen. Zumindest, was die verschiedenen malträtierten Körperteile in diesem Raum betraf.
Überhaupt keinen Durchblick hatte Wencke, welche Beweggründe die beiden erwachsenen Frauen dazu gebracht hatten, wie zwei wilde Raubkatzen übereinander herzufallen.
Alle atmeten durch, als hätten sie gerade einen Viertausendmeterlauf hinter sich gebracht. Wencke schaute von der einen zur anderen. Friedlich sahen sie immer noch nicht aus. »Jetzt aber mal Pause hier, sonst hole ich meine Handschellen und kette euch aneinander«, drohte Wencke vorsichtshalber.
»Mama«, sagte der kleine Junge und tapste zu Seike Hikken. Astrid Kreuzfeldt schluchzte erneut, doch sie blieb stehen, wo sie war, und rührte sich keinen einzigen Zentimeter. Endlich traute Wencke sich, den verdrehten Arm loszulassen.
»Ach, wissen Sie, eigentlich sind wir ja Freundinnen«, sagte Seike Hikken und nahm das Kind auf den Arm, um ihm mit dem Pulloverärmel die Tränen und den Rotz vom Gesicht zu wischen. »Aber leider sind unsere Söhne Halbbrüder, und das hat Frau Kreuzfeldt soeben erfahren.
Ich kann ja verstehen, dass sie so ausgerastet ist.« Ein giftiggütiges Lächeln begleitete diese Worte. Seike Hikken, was bist du nur für eine Schlange, dachte Wencke.
»Seit drei Jahren habe ich eine Beziehung mit ihrem Mann. Wir sind wirklich glücklich miteinander. Nur diese Heimlichkeiten, diese falsche Rücksicht auf Astrids Gefühle, die waren für mich immer eine Qual. Haben Sie mal ein uneheliches Kind ohne Vater auf einer kleinen Insel wie Juist!
Da wird Ihnen von Jungfernzeugung bis Leihmutterschaft alles nachgesagt. Aber Gott sei Dank ist dieses Spiel ja jetzt endlich vorbei. Sie glauben gar nicht, wie erleichtert ich darüber bin!«
Vorsichtshalber fasste Wencke Astrid Kreuzfeldt wieder fest am Arm. Sie könnte verstehen, wenn dieser Frau erneut die Nerven durchgingen. Aber sie blieb ruhig. Die zierliche Frau stand regungslos wie eine Statue an der Wand. Sie atmete ein und aus, als hinge sie an einer Beatmungsmaschine. Ein und aus. Ein und aus.
»Ich habe bis gestern nichts davon gewusst!«, sagte sie nur.
»Hast nichts wissen wollen!«, konterte Seike Hikken.
»Bist immer nur mit dir und deiner scheinbar heilen Friede-Freude-Eierkuchen-Welt beschäftigt. Aber jetzt ist alles anders. Ich habe das Ganze lange genug mitgemacht, war immer diejenige, die ganz hinten stand, wenn das Glück verteilt wurde. Jetzt bin ich mal an der Reihe!« Seike legte die Hände auf ihren schlanken Bauch und grinste boshaft. »Und früher oder später wird sich sowieso nicht mehr kaschieren lassen, dass unsere beiden Söhne noch ein Geschwisterchen kriegen. Im Herbst sind wir zu dritt. Und dann werde ich mit Gerrit zusammenleben, dann sind wir eine glückliche Familie. Dann sind wir zu viert!« Doch plötzlich heulte Seike Hikken aus heiterem Himmel los und krümmte sich wie ein
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