Das Hagebutten-Mädchen
Hause ist!« Nun stand sie direkt vor ihr, die Hände in die schmalen Hüften gestemmt wie ein mageres Waschweib. Aber ein Zucken am Hals verriet, dass es nur Theater war und dass auch ihre Nerven blank lagen. »Weil er dich und dein chaotisches Kind gar nicht für immer ertragen würde.«
Das hätte sie nicht sagen sollen. Diese perfide, selbstgerechte Kuh! »Mein chaotisches Kind?«, schrie Seike. Der zappelnde Paul wollte nicht auf ihren Arm. Er schien sich zu fürchten vor der schäumenden Wut seiner Mutter. Was wusste er schon von der ganzen Geschichte, der arme Kerl? Sie hievte ihn trotzdem hoch, sein Gewicht war nun auf ihrem Hüftknochen. Sie fasste unter sein Kinn, schob das Gesicht absichtsvoll langsam in Astrids Richtung. Paul hatte es nicht verdient, was konnte er schon dafür? Es war genug. Wenn Astrid anfing, dieses Kind zu beleidigen, dann war sie keiner Schonung mehr wert. Dann würde Seike den letzten Pfeil auf sie schießen.
»Mein chaotisches Kind? Sieh ihn dir doch mal ganz genau an. Hast du etwa noch nie bemerkt, wie ähnlich Paul und Michel sich sind?«
Sonntag, 21. März, 9.49 Uhr
H enner Wortreich sah zweifellos gut aus. Dichte blonde Haare, denen man nicht ansah, dass er bereits vierzig war, und helle, freundliche Augen. Er bewegte sich geschmeidig, aber nicht affektiert, seine Kleidung war geschmackvoll, aber nicht überkandidelt. Als er den Tee auf den Tisch gestellt hatte, Rotbuschtee mit Wildkirscharoma, da sah man ihm an, dass es ihm schlecht ging. Oft schaute er nur für einen flüchtigen Moment zur Tür, so als warte er auf jemanden, und ein langer Atemzug verriet, dass ihm bewusst wurde, dass er vergeblich warten würde.
Er habe sich für eine Woche krank gemeldet, hatte er gleich gesagt, als er Wencke die Tür geöffnet hatte. Nachdem er gestern, als vorerst letzte Amtshandlung sozusagen, die Fährverbindungen hatte stoppen lassen, da hatte er bei seinem Vorgesetzten in Norden angerufen und um einige freie Tage gebeten. Es habe keine Schwierigkeiten gegeben, sein Chef sei sehr verständnisvoll gewesen. Henner erzählte fast atemlos, dass er hoffe, der Mord würde bis dahin geklärt sein. Die Ungewissheit sei unerträglich. Er würde beinahe wahnsinnig darüber werden. Aber wer wüsste schon genau, ob es ein Mord gewesen sei, es hätte ja eigentlich mehr nach einem Bösen-Jungen-Streich ausgesehen.
Ruhelos wirbelte er um Wencke herum, er brachte ihre Jeansjacke zur Garderobe, zog die Vorhänge auf und öffnete die Fenster oder legte kleine Gebäckstücke auf ein Porzellantellerchen. Immer, wenn er sich setzen wollte, fiel ihm erneut eine Kleinigkeit ein, die ihn daran hinderte. Seine Nervosität war erschreckend. Wencke dachte an Sanders’ Erzählung, wonach er gestern am Leichenfundort einen Zusammenbruch erlitten hatte. Sie war besorgt, dass Wortreich erneut haarscharf vor einem Kollaps stand.
»Es war eine gute Entscheidung von Ihnen, die Abfahrt der Fähre zu verhindern, Frau Kommissarin. Auch wenn sie jetzt alle schimpfen, die Reederei und die ganzen Insulaner, es war richtig! Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, den Verdächtigen unter den Insulanern zu suchen?« Endlich hatte er sich neben sie an den Glastisch gesetzt.
»Ein Zeuge hat sich am Freitagabend mit Ihrem Lebensgefährten unterhalten und dabei den Eindruck gehabt, dass Minnert sich bedroht fühlte.«
Henner Wortreich sah verwundert aus. »Können Sie mir sagen, wer dieser Zeuge war? Er muss nämlich mehr mitbekommen haben als ich. Mir ist an Kai nichts Besonderes aufgefallen.«
»Sagt Ihnen der Name Tjark Bonnhofen etwas?«
»Bonnhofen, Bonnhofen…«, überlegte Wortreich.
»Der schreckliche Bonnhofen von Norderney etwa? So ein rechtsradikaler Widerling?«
Wencke kramte in ihren Erinnerungen. Hatte der Zeuge am Vortag auf sie einen solchen Eindruck hinterlassen?
»Kann schon sein, ich habe mit ihm nicht über Politik gesprochen. Nur über seine Pläne, ein Haus auf Juist zu kaufen, Inselhuus, kann es sein, dass es so hieß? Bonnhofen ist Immobilienmakler.«
Henner Wortreich lachte etwas bitter. »Kann ich mir nicht vorstellen, dass Kai sich mit ihm über irgendetwas unterhalten hat, besonders nicht über einen Inselhuus- Verkauf. Aber ich war ja vorgestern Abend nicht dabei, habe keine Lust auf diese Art von Partys.«
»Grundsätzlich nicht?«, bohrte Wencke nach.
»Genau, grundsätzlich nicht. Kai haut manchmal zu sehr über die Stränge bei solchen Gelegenheiten, und dann streiten wir
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