Das Hagebutten-Mädchen
uns meistens ganz grässlich. Ich bin Freitag schön zu Hause geblieben, aber das habe ich Ihnen ja bereits gestern erzählt. War, wie gesagt, später noch ein bisschen auf der Promenade spazieren, dann bin ich um elf ins Bett. Schließlich hatten wir Samstag früh um kurz nach sieben Anreisedienst am Hafen.«
»Wann war der Spaziergang?«
»Ach, na ja, mag wohl so zwischen Viertel nach neun bis zehn Uhr gewesen sein. Zeugen habe ich keine, das wollen Sie sicher gleich wissen, oder? Außer ein paar betrunkenen Fremden, die anscheinend schon von der Party nach Hause wankten, habe ich niemanden getroffen.« Er hielt inne und nippte an seinem Tee. Wencke dachte kurz, dass der Spaziergang auffällig gut in die bisherige Geschichte passte.
»Es muss ziemlich viel zu trinken gegeben haben am Freitag. Vielleicht hat Kai ja doch mit diesem Bonnhofen gequatscht. Wenn er Alkohol im Blut hatte, machte er manchmal solche nicht nachvollziehbaren Sachen.«
»Wissen Sie von einem wertvollen Akkordeon?«, fragte Wencke, während er ihr ungefragt noch eine Tasse Tee nachgoss.
»Ja, ich weiß davon«, antwortete Wortreich so prompt, als hätte er auf diese Frage nur gewartet. Wencke war irritiert, diese Offenheit war nicht echt. Sie passte nicht zu seiner Nervosität und Fahrigkeit. Es schien so, als habe Wortreich sich bereits die Worte im Voraus zurecht gelegt.
» Das Hagebutten-Mädchen, ja, so heißt das Instrument. Meines Wissens nach ein Reparaturauftrag vom Langeooger Akkordeonverein, ein schönes Stück. Und wertvoll dazu. Kai hat in einer Tour davon geschwärmt.«
»Haben Sie es einmal gesehen?«
»Nein, ich habe es nie gesehen.«
Wencke brauchte ihn noch nicht einmal anzusehen, um zu wissen, dass er soeben in voller Absicht die Unwahrheit erzählt hatte. Zu schnell war die Antwort gekommen. Die ganze Zeit schon beobachtete sie ihn dabei, wie er sich bei jedem einzelnen Handgriff unendlich konzentrieren musste, wie er mit zitternden Fingern den Kandiszucker in die Tasse legte und einen Keks so ungeschickt vom Teller nahm, dass er am Rand zerkrümelte. Aber ihr eine Antwort entgegenschmeißen, kaum dass sie die Frage zu Ende formuliert hatte. Nein, das passte nicht zusammen.
Sollte sie ihn entlarven, sich aufspielen als eine Frau, der man nichts vormachen konnte? Oder war es vielleicht besser, ihn im Glauben zu lassen, dass sie ihn nicht durchschaute? Wie würde sie weiter kommen bei diesem Mann?
»Ich interessiere mich nicht wirklich dafür: Meistens habe ich nur so getan, als hörte ich Kais Ausführungen zu. Sie kennen das ja sicher, wenn man dem Partner zuliebe ein bisschen Interesse heuchelt«, erklärte Wortreich weiter.
»Wissen Sie, wo das Instrument jetzt ist?«
»Nein, ich habe keine Ahnung. In Kais Laden vielleicht?«
Wencke schüttelte den Kopf und dachte: Du weißt doch ganz genau, dass es dort nicht ist, mach mir nichts vor. Doch sie sagte etwas anderes, denn sie hatte sich entschieden, dass er sie ruhig unterschätzen sollte. »Wir haben bereits alles abgesucht. Ist es vielleicht hier im Haus?«
In diesem Moment hörten sie ein Krachen. Es kam eindeutig von nebenan, schien hinter der Wand zu sein, vor der sie gerade auf dem Sofa hockten. Ein gewaltiges Krachen. Und ein Schrei. Wencke stand augenblicklich auf.
Glas zersplitterte, ein Kind heulte, unverständliches, hysterisches Kreischen einer Frauenstimme drang durch die Mauer. Kein Zweifel, nebenan tobte ein Kampf. Und nebenan war die Wohnung von Seike Hikken, in der sie eigentlich ihren Kollegen Sanders vermutet hatte. Doch der hätte eingegriffen. Stattdessen rummste es wieder, etwas fiel um, ein Stuhl oder Tisch, auf jeden Fall heulte das Kind noch lauter. Himmel, was ging dort vor?
»Haben Sie zufällig einen Schlüssel von der Nachbarwohnung?«, fragte Wencke eilig.
Doch Henner Wortreich schien schon wieder ganz woanders zu sein. Er saß auf dem Sessel, starrte vor sich hin und klopfte hibbelig mit den Fingern auf seinen Oberschenkel. »Den Schlüssel!«
»Ich hab keinen, wirklich! Fragen Sie doch mal Ihren Kollegen, vielleicht hat der einen. Das würde mich nicht wundern!«
»Mein Kollege?«
»Ja, er geht bei Seike Hikken ein und aus. Wussten Sie das nicht? Die beiden haben etwas miteinander, was auch immer genau es ist, geht mich ja auch nichts an…«
Wencke ging hastig zur Tür. Sie wollte gar nicht hören, was dieser Mann über Sanders und diese Frau erzählte. Denn wenn es stimmte und sie auch nur eine Sekunde darüber
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