Das Hagebutten-Mädchen
nachdachte, dann würden ihre Arme und Beine schwer und unbeweglich, und sie hätte zugeben müssen, dass dieser Satz sie traf. Und sie durfte nicht langsam sein, in diesem Moment musste sie handeln. Das Schreien der Frau wurde lauter und greller. Wenn sie nicht sofort eingriff, dann würde dort drüben womöglich ein Unglück geschehen.
Sie rannte nach draußen und blickte sich hastig um. Von Sanders war weit und breit nichts zu sehen. Sie klingelte an der Glastür Sturm. »Machen Sie sofort auf, hier ist die Polizei! Hören Sie? Ich bin da, um Ihnen zu helfen, öffnen Sie mir die Tür!«
Nichts geschah, nichts, außer dass immer noch Klirren und Krachen aus dem hinteren Teil des Hauses bis auf die Straße drangen. Und das Kindergeschrei. Sie musste etwas tun, um Himmels willen, sie musste etwas tun! Es durfte nichts passieren! Wurde etwa das arme Kind verprügelt?
Wencke holte tief Luft. Nein! Wenn sie genau hinhörte, dann war zu erkennen, dass es zwei Frauenstimmen waren. Zwei kreischende Frauenstimmen. Und das Geheule des Kindes. Kurz blickte sie sich um, kein Stein, kein Holzstamm, gar nichts lag hier herum. Sie atmete wieder aus, und im selben Moment wich sie zurück, nahm einen kurzen Anlauf und trat mit voller Wucht gegen die Milchglasscheibe. Nichts passierte. Es klappte nie beim ersten Mal. Wencke war eigentlich zu leicht für derartige Aktionen. »Sanders, verflucht noch mal, wo stecken Sie?«, schimpfte sie, bevor sie ein zweites Mal zu einem gewaltigen Tritt ausholte. Das Glas vibrierte ein wenig vom Aufprall, ein armlanger Sprung durchzog die Tür. »Verdammt, Sanders, wenn man dich mal wirklich braucht!«
Und dann setzte sie wieder an, es musste auch ohne ihn gehen, sie rannte aus zwei Meter Entfernung los und trat nochmals so heftig, wie sie konnte, gegen die Tür. Alles zersplitterte, Wencke hatte kurz das Gefühl, in brüchiges Eis einzubrechen, dann verlor sie das Gleichgewicht und fiel mit der Schulter zuerst auf den Boden. Tausend Scherben klirrten, einige landeten spitz und kantig auf Wenckes Gesicht, sodass sie schnell die Augen schließen musste.
Als sie sich wieder zu blinzeln traute, stand Wortreich über ihr und blickte ungläubig auf sie herab. »Alles klar?«, fragte er.
»Mein Gott, sehen Sie zu, dass Sie in die Wohnung kommen, bevor sich die beiden Frauen noch gegenseitig umbringen!«
Er zögerte, schabte mit den Füßen über die Scherben, und schließlich war Wencke doch schneller als er, nachdem sie sich hochgequält hatte. Ihre Schulter pochte widerlich, doch sie beschloss, den Schmerz zu ignorieren.
Wencke öffnete durch das Loch von innen die Tür, rannte in den Flur und zögerte nicht einen Moment, denn sie wusste, dass, wenn sie nicht sofort handelte, hier etwas Schlimmes geschehen würde. Das Geschrei kam aus dem hintersten Zimmer. Die Frauen schienen ja noch nicht einmal das Zerbersten der Scheibe gehört zu haben, und wenn sie es doch wahrgenommen hatten, so hatten sie sich nicht davon abhalten lassen, sich weiter gegenseitig auf das Härteste zu bekriegen. Wencke riss die Zimmertür in einem Ruck auf. Gott sei Dank, das Kind saß unbeschadet in einem Sessel. Es hatte sich, wie zum Selbstschutz, eine Sofadecke übergeworfen und kauerte heulend darunter. Die Frauen waren wie von Sinnen.
Wencke erkannte beide, wenn auch nicht auf den ersten Blick, denn die wirren Haare und wutverzerrten Gesichter machten wilde Furien aus ihnen. Doch die kleinere, die an die Wand gepresst stand und ihrer Gegnerin ins Gesicht spuckte, war eindeutig Astrid Kreuzfeldt. Ihre Wangen waren rot und zerkratzt. Die andere hatte beide Hände um ihren Hals gelegt und sie drückte mit voller Kraft zu. Es war die blonde Frau, die gestern an Wenckes Kutsche vorbeigeradelt war. »Schön, du bist auch hier!«, hatte Sanders ihr zugerufen. Seike Hikken. Ihre rechte Gesichtshälfte hatte etwas abbekommen: Ihre Lippe war hässlich geschwollen. Mein Gott, es sah aus, als wolle sie Astrid Kreuzfeldt die Luft abdrücken.
»Hören Sie sofort auf.«, schrie Wencke und stürzte auf die Frauen zu. Astrid Kreuzfeldt nutzte den kurzen Moment, in dem Seike Hikken zur Seite blickte, und krallte sich mit den Fingern in das lange blonde Haar ihrer Gegnerin. Diese jaulte auf und biss in den Unterarm der anderen. Als Wencke versuchte, sich zwischen die beiden zu schieben, bekam sie eine Faust in die Nierengegend und einen Tritt gegen das Schienbein verpasst, sodass es beinahe schien, als hätten sich die beiden
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