Das Hagebutten-Mädchen
Astrid Kreuzfeldts Haus stand östlich vom Bootsschuppen, sie hätten diesen Weg nehmen können, um zu ihr zu gelangen, auch wenn es ein kleiner Umweg war, die neu gepflasterte Deichstraße wäre bequemer gewesen. Aber das war ja egal, Hauptsache, er hatte eine möglichst harmlose Erklärung für Wenckes sonderbares Verhalten.
Warum war sie nur so wütend auf ihn gewesen? Sie war fast ohne ein Wort zu sagen davongestampft. Sicher hatte sie irgendetwas in Erfahrung bringen können und ihm nichts davon erzählen wollen. Wencke erledigte immer alles am liebsten auf eigene Faust. Sicher war es so, sicher wieder einer ihrer trotzigen Alleingänge, sicher …
Nein, Sanders war sich nicht sicher. Er hatte Bauchschmerzen.
Und dann entschied er sich in einer Sekunde, von einem Augenblick zum nächsten und rein intuitiv, dass sie die Suche hier beenden würden. Dass sie noch später nach den verschwundenen Papieren suchen konnten. Dass es in diesem Moment wichtigere Dinge zu tun gab, als in einem Altpapierbehälter zu wühlen. »Glaser, wir fahren zurück. Zurück zum Büro, bitte, am liebsten sofort.« Da das erstaunte Gesicht des Zöllners nicht zu übersehen war, sollte er ihm wohl eine Erklärung geben, so diffus sie sich auch anhören musste: »Ich habe Sorge um meine Kollegin. Wir wissen inzwischen, dass Wortreich uns in einigen Dingen nicht die ganze Wahrheit gesagt hat. Wir können davon ausgehen, dass er bewaffnet ist. Und Wencke Tydmers geht mit ihm sonst wo spazieren und hat keine Ahnung, in welcher Gefahr sie schwebt. Wir müssen sie finden, Glaser, verstehen Sie?«
Der Zollbeamte nickte nur, sie verschlossen die Wohnungstür und gingen schnell, fast hastig zu ihren Fahrrädern. Keine Minute verschenken, dachte Sanders, als er wieder auf die Wilhelmstraße bog. Doch wie sollten sie diese Suche am besten durchführen? Hier gab es keine Sondereinsatzkommandos für solche Situationen, keine Streifenpolizisten, die man bei einer Personensuche einspannen konnte. Hier auf Juist waren sie nur zu zweit. Und das war eindeutig zu wenig.
Eine versoffene Meute belagerte den Kurplatz. Erwachsene Männer, die bereits jeglichen Gleichgewichtssinn verloren zu haben schienen, balancierten mühselig auf dem Beckenrand des Schiffchenteiches. Andere lagen schlafend auf den hellgrünen Bänken. Die wenigen, die noch bei vollem Bewusstsein waren, schimpften in ihre Handys. Es sah beinahe aus, als telefonierten sie miteinander, obwohl sie Schulter an Schulter standen.
Die Frauen kreischten und tranken Sekt aus weißen Plastikbechern. Immer nur Sekt.
Sanders hatte das Gefühl, diese Weiber seit Freitagabend immer nur mit diesem sprudelnden Zeug in der Hand gesehen zu haben. Mussten die nicht irgendwann platzen vor lauter Kohlensäure? Oder umkippen vor lauter prickelndem Betrunkensein.
Wencke war jedoch nicht unter ihnen. Es wäre aufgefallen. Wencke trank keinen Sekt, trank auch kein Bier, trank irgendwie gar nichts mit Bläschen, was zumindest im Auricher Morddezernat allgemein bekannt war. Sie hätte also hier gestanden, als Einzige mit manierlichem Blick und ohne Getränk, das wäre wirklich aufgefallen.
Sanders dachte schon, er hätte es geschafft, unauffällig vorbeizuhuschen. Er trat in die Pedale, steuerte auf die Inselkirche zu, weil er den doppelt sehenden Blicken entfliehen wollte, doch dann rief jemand: »Da isser ja!« Mit einem Mal erwachte Leben am Schiffchenteich, auf den Bänken, auf den platt getretenen Rasenflächen.
»Stehenbleiben!«, rief einer und dann mehrere, drei oder vier kamen auf ihn zugerannt, er konnte nicht ausmachen, ob sie wütend oder froh waren, ihn zu sehen.
Was hätte Sanders anderes tun sollen: Er bremste, er setzte seinen rechten Fuß ab, er bewegte seinen Hintern jedoch nicht vom Sattel, sie sollten merken, dass er in Eile war.
»Was ist denn nun mit dem Schiff?«, fragte ein atemloser Shantysänger, den Sanders als Mitglied des Spiekerooger Chores zu erkennen glaubte. »Wir haben jetzt halb zwei, in vier Stunden soll die Fähre fahren, wenn sie denn fährt…«
Eine Dicke mischte sich ein. Es war die vorlaute Frau des Borkumer Antiquitätenhändlers Redlefsen. »… das ist doch hier wohl ein Witz! So etwas würde es bei uns nicht geben, eine Unverschämtheit ist das, jawohl, und…«
Hinter ihr klang weiter die sonore Stimme des Spiekeroogers: »Wir mussten schon aus unseren Pensionen ausziehen, kann ich auch verstehen, die müssen ihre Buden ja auch klar haben bis Ostern!«
»Was
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