Das Hagebutten-Mädchen
Überfälle aufklärte. »Ich brauche dringend die Leitung des Langeooger Akkordeonvereins in meinem Polizeirevier. Ist der oder diejenige vielleicht hier?«
»Nee«, brüllte einer eifrig. »Aber ich weiß, wo Märten Pollinga steckt. Kann ihn sofort holen, soll ich?« Sanders nickte und der junge Mann lief augenblicklich los.
»Sie erinnern sich an meine Kollegin Tydmers? Klein, rote Haare, Jeansjacke… hübsches Gesicht!« Alle nickten betroffen. »Leute, wir müssen sie finden! Je eher, desto besser.«
Sonntag, 21. März, 13.40 Uhr
H enner Wortreich rauchte nicht. Wencke dagegen eine nach der anderen. Ihre Fingerkuppen kribbelten schon von der Überdosis Nikotin.
Wencke war nervös. Sie brauchte die Zigaretten, um sich daran festzuhalten.
Es gäbe da eine besonders schöne Stelle, hatte Wortreich ihr versprochen. Man könne dort ungestört plaudern, mit Blick aufs Meer. Wencke war ihm gefolgt: über den Deich Richtung Osten, bis der Wall zu Ende war und in einen kleinen, bewachsenen Hügel mündete, der früher einmal eine Müllkippe gewesen war und auf dem jetzt ungenutzte Pferdefuhrwerke abgestellt wurden. Links lag der Flugplatz, man konnte bei der klaren Sicht mühelos den Tower erkennen. Es gab keine Starts und Landungen mehr, da auch sie seit gestern ausgesetzt worden waren.
Rechts schlief der Hafen im Watt, die einsetzende Flut rollte nur allmählich heran, noch waren die grauen Schlickflächen vor ihnen höher als das auflaufende Wasser.
Abgeschnitten waren sie hier. Abgeschnitten vom Rest der Welt. Eine Insel eben. Mit einem Mörder darauf.
Erst hatte Wencke geglaubt, Henner Wortreich sei der Mörder. Vieles sprach dafür, vor allem sein merkwürdiges, fast schizophrenes Verhalten, eben noch Heulen und Wehklagen, im nächsten Moment hibbelig wie ein Kind am heiligen Nachmittag. Deshalb hatte sie ein ungutes Gefühl gehabt, als er das sagte mit dem ungestörten Plätzchen. Zunächst war sie nur zögerlich mitgegangen.
Nur der Gedanke an eine günstige Gelegenheit, diesen zweigesichtigen Henner Wortreich bei einem Gespräch unter vier Augen endlich näher kennen zu lernen, hatte sie letztlich dazu gebracht, ihre Zweifel über Bord zu werfen und Wortreich bis hierhin zu folgen. Der Wunsch nach diesem Gespräch war Schuld, und diese unvernünftige Stimme in ihrem Bauch, die ihr zuflüsterte, dass der Mann hier einfach kein Mörder sein konnte, aus dem einfachen und vielleicht auch vermessenen Grund, dass Wencke es spüren würde, wenn es anders wäre. Wenckes Intuition verleitete sie oft zu der verstiegenen Überzeugung, dass sie die Bösewichter schon am Geruch erkennen konnte oder daran, wie sie die Stirn in Falten legten. Mehr als einmal hatte sich dieser Glauben als Irrtum erwiesen und sie in mehr oder weniger prekäre Situationen geraten lassen, doch Wencke konnte heute trotzdem nicht umhin, an sich und ihre Mördernase zu glauben.
Sie hatte schon einen kurzen Gedanken daran verschwendet, Sanders Bescheid zu geben, wo sie steckte und was sie vorhatte. Doch dann hatte sie es sein lassen. Sie fühlte noch immer den Groll gegen ihren Kollegen. Er hatte ihr in puncto Seike Hikken nicht die Wahrheit gesagt und schlichtweg falsch gespielt. Normalerweise wäre es nicht so tragisch gewesen. Normalerweise hatte sie ihm alle Unehrlichkeiten der Welt zugetraut, zu-Wencke hatte sich selten so getäuscht. Und es hatte merkwürdigerweise selten so wehgetan, von jemandem getäuscht worden zu sein. Sanders schien ihr, seit sie hier auf Juist war, nur Theater vorgespielt zu haben. Damit wollte er wahrscheinlich Seike Hikken schützen und seine Freundin, oder was auch immer sie war, aus etwas heraushalten, in das sie eindeutig verwickelt war. Er hatte von Anfang an die Ermittlungen blockiert. Wencke hatte nicht wenig Lust, ihn bei der zuständigen internen Polizeidienststelle anzuschwärzen und ihm so seine anstehende Karriere im Emsland zu verbauen.
Mal sehen, dachte sie, mal sehen, welche Entschuldigung dieser Idiot parat hat. Und ganz insgeheim hoffte sie, es möge eine plausible sein.
Nun saßen sie schon lange im Gras, Wencke hatte nicht auf die Uhr geschaut, nur am leichten ersten Brennen ihrer sonnenbeschienenen Nase merkte sie, dass mindestens zwei Stunden ins Land gegangen sein mussten. Doch ihr Handy hatte nicht gepiept, also schien Sanders auch ohne sie zurechtzukommen, und schließlich war es mehr als interessant, was Henner Wortreich ihr in den vielen Minuten erzählt hatte. Ihre Rechnung war
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