Das Hagebutten-Mädchen
spricht dann wohl der Laden in der Wilhelmstraße, den meine Kollegin und ich heute Morgen durchsucht haben. Das reinste Chaos, kein durchschaubares System. Wie haben es diese beiden nur miteinander ausgehalten? Ich wette, da gab es nicht nur einmal Streit, wenn es ums Thema Aufräumen ging.«
Da war es schon wieder, dieses merkwürdige Gefühl, als ob das Hirn auf einmal zwischen die Beckenknochen gerutscht sei und sich die Gedanken direkt auf dem Zwerchfell ausbreiteten. Intuition. War gar nicht schlecht, dieses Verstehen jenseits dessen, was man reinen Gewissens zu Protokoll geben konnte. Er könnte als Ergebnis der Hausdurchsuchung nicht schreiben: Da ist was faul an der Sache! Offiziell musste er zugeben, dass die Suche ergebnislos war. Doch das Gefühl, das sich bei Sanders eingeschlichen hatte, war den Aufwand mit der Herumtelefoniererei in den Auricher Justizkreisen wert gewesen. Henner Wortreich hatte das Thema »Kai Minnert« schon nach nicht einmal zwei Tagen abgehakt, und das nach fünfzehn Jahren Beziehung auf engstem Raum.
Natürlich gab es Menschen, die auf diese Art ihre Trauer, ihre innere Leere zu überwinden suchten. Das Aussortieren gehörte, soweit Axel Sanders wusste, zu einem häufigen Ritual bei Hinterbliebenen. Doch Kai Minnert war erst seit nicht einmal zwei Tagen tot, zudem fanden Ermittlungen zum Todeshergang statt. Da war es schon merkwürdig, dass der Lebensgefährte ganz akribisch sämtliche Unterlagen fortgeräumt hatte.
»Glaser, schauen Sie doch noch mal ums Haus herum, ob dort eventuell noch Aktenordner oder Ähnliches zu finden sind. Vielleicht gibt es ja auch noch einen Keller, einen Dachboden, irgendeinen Stauraum, wo nun die aussortierten Unterlagen von Kai Minnert liegen.«
Glaser nickte und ging in den Flur, Sanders würde ihn gleich bei der Suche unterstützen, wenn er die Schreibtischschublade erst wieder eingeräumt hatte. Er wollte den Impfpass schon zur Seite legen, konnte sich aber nicht verkneifen, einen Blick hineinzuwerfen. Wortreich schien gern in exotische Länder zu reisen, denn er hatte sich mehrmals gegen Gelbfieber, Malaria und TBC impfen lassen. Zudem hatte er mehrere Tauchdiplome erlangt, die alle fein säuberlich sortiert in diesem hübschen Schreibtischchen lagen. Und dann segelte da dieser rosa Zettel aus dem Impfpass heraus, feste Pappe im Postkartenformat. Den hatte er mit Sicherheit darin versteckt, denn bei dieser Ordnung hier rutschten keine Waffenscheine aus Versehen in die Urlaubsunterlagen. Henner Wortreich hatte eine Berechtigung für eine 7,65er Walther.
Sanders nahm das Papier zur Hand, ging hinaus und zeigte ihn Glaser, der gerade in den Müllbehältern vor der Haustür wühlte. »Wussten Sie das?«, fragte Sanders den Zöllner, doch dieser schüttelte den Kopf.
»Ich würde diesen Kerl gern einmal fragen, wozu er diesen Schein beantragt hat. Wo steckt er eigentlich?«
Glaser schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und schaute Sanders schuldbewusst an. »Henner Wortreich? Ach, entschuldigen Sie, das habe ich jetzt wirklich ganz vergessen, weil ich so durcheinander war wegen dieser merkwürdigen Akkordeongeschichte. Außerdem dachte ich ja, sie wären auf dem Weg hierhin!«
»Wer, sie? «
»Ihre Kollegin und Wortreich. Meine Frau sagte, sie hätte die beiden so gegen fünf nach halb zwölf in Richtung Deich spazieren sehen. Sie gingen an unserem Haus vorbei und liefen dann zum Bootshaus. Meine Frau fragte Frau Tydmers noch, ob die Schuhe denn passen, aber sie hätte kaum reagiert und einen ziemlich konzentrierten Eindruck gemacht. Und da dachte meine Frau, dass die beiden zur Hausdurchsuchung unterwegs wären, weil ich ja auch gerade dabei war, mich auf den Weg zu machen. Aber dann hätten sie ja…«
»… sie hätten schon längst hier sein müssen!«
Sosehr Sanders die Gefühle im Bauch gerade eben noch begrüßt hatte, so sehr verfluchte er sie jetzt. Was war eigentlich schon dabei? Wencke lief mit einem Zeugen über die Insel. Der Mann war bislang noch nie straffällig geworden, soweit sein polizeiliches Führungszeugnis darüber Auskunft gab. Und Wencke war nicht dumm, gutgläubig und schwach. Und trotzdem bohrte da ein Angstklumpen direkt in seinen Eingeweiden herum, ein mulmiges Gefühl war das schon nicht mehr. Er hielt sich an der Haustür fest.
»Und wohin könnten sie sonst noch gelaufen sein, wenn sie nun augenscheinlich nicht zu uns unterwegs waren?«
»Villa Waterkant vielleicht?«
Ja, das war möglich.
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