Das Hagebutten-Mädchen
einen Schlüssel?«
»Ja, einen Moment«, entgegnete sie, unendlich erleichtert, dass es nur diese Lappalie war, die ihn an der Haustür hatte klingeln lassen. Sie fingerte den Schlüssel vom Brett an der Flurwand und drückte ihn Axel in die Hand. »Tut mir Leid, ich habe gerade keine Zeit, der Kleine wird gleich wach.« Und dann schloss sie die Tür vor Axels Nase und ging zurück ins Bad. Gerrit saß auf dem Rand der Badewanne und rieb sich die Schläfen. Sie setzte sich neben ihn. »Es war nichts, er wollte nur den Schlüssel für Henners Wohnung!« Dann griff sie nach seiner Hand. »Und jetzt bist du bitte ganz ehrlich! Freitagabend…«
»Mensch, Seike, ja! Ich bin losgerannt. Wollte was klären mit Kai! Und mit Henner. Dass ich die Sache nicht mitmachen würde. Diese Sache mit dem Akkordeon, diesem Hagebutten-Mädchen.«
»Was…?«
»Erzähle ich dir später. Du wolltest doch zuerst wissen, wohin ich am Freitag gegangen bin, oder?«
Sie nickte.
»Henner und ich haben uns fast noch vor der Haustür getroffen, direkt nachdem ich von dir losgegangen war. Und ich habe ihm gleich gesagt, dass ich nicht mehr mitmachen werde bei dieser Sache. Henner hat mich aber doch noch in ein Gespräch verwickelt. Du weißt vielleicht gar nicht, wie er sein kann, aber wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann lässt er nicht so schnell locker. Erst hat er mich beschimpft, dann hat er den Leidenden markiert. Doch ich bin standhaft geblieben, Seike, wirklich. Habe ihm gesagt, dass ich auf das Geld verzichte, weil mir die Sache einfach zu heikel ist. Und dann hat Henner mich überredet, mit in den Laden zu kommen. Da war es bestimmt schon kurz vor elf. Er wollte die Sache endlich zur Sprache bringen. Wollte Kai auch mit dem Gedanken anfreunden, dass du und ich, na ja, dass wir zusammen sind und Kinder haben und so. Aber der Kai hat schon dort gelegen. Im Fenster. Hat geschlafen. Und, na ja, ob die Tür zum Schaufenster noch auf war? Frag mich nicht, so genau habe ich dann ja auch nicht hingeschaut. Henner und ich haben gelacht über Kai in seiner Koje, wirklich, wir haben gelacht, und dann sind wir wieder gegangen.«
Seike schwieg vorerst zu dieser Geschichte. Gerrit hatte nach ihrer Hand gegriffen, hatte seine Finger zwischen die ihren geschoben und es sah aus, als wären die beiden Hände zu einem stillen Gebet gefaltet. Doch in Wirklichkeit schwebte Seike in einem Zustand zwischen Glauben und Zweifel, zwischen Verdrängen und Nachhaken. »Aber du warst erst viel später bei mir. Erst gegen Mitternacht…«
»Liebling, Henner und ich haben noch ein Bierchen miteinander getrunken. Bei ihm. Schließlich waren wir beide noch so aufgebracht. Wir haben noch lange diskutiert. Wirklich. Und ich habe dich so lieb, Seike. Alles habe ich nur für dich getan, und für den Kleinen… ach, die Kleinen… ich freue mich so, dass es euch gibt, glaub mir doch!«
Seike wollte ihm glauben, auch wenn diese Geschichte so verdammt unglaubwürdig klang. Denn sie wusste ganz genau, dass Gerrit an diesem Abend, kurz nachdem Kai an der Tür geklingelt hatte, seine Jacke übergezogen hatte und wortlos verschwunden war. Und erst zwei Stunden später wieder bei ihr aufgetaucht ist. Und sie war auch nicht so dumm, als dass ihr ein Zusammenhang nicht sofort ins Auge gesprungen wäre: Gerrit war Feuerwehrmann, Fachmann für Atemschutzgeräte. Wenn er auch kein Spezialist war, er kannte sich sicher aus mit Luftgemischen in abgeschlossenen Räumen und CO2- Werten. Seitdem dieser Norderneyer Immobilienmakler ihr von diesem Mord erzählt hatte, trug sie den Verdacht mit sich herum, dass Gerrit es getan haben könnte. Weil er verhindern wollte, dass Kai zu Astrid ging, um ihr die Wahrheit zu sagen. Zeitweise war sie sich sogar ganz sicher gewesen. Besonders weil Gerrit mit Astrid geschlafen hatte. Alles hatte schrecklich gut gepasst.
Doch nun sah er sie an. Himmel! Sie liebte diesen Blick. Er war ein treuer Mann. Auch wenn alles auf den ersten Blick ganz anders aussehen mochte, schließlich war er mit Astrid verheiratet, hatte ein Kind mit ihr. Doch wenn er sie so ansah, dann spürte sie, dass er genau wusste, wohin er wirklich gehörte. Und wenn er dann so mit ihr sprach wie jetzt, wenn er sie zwischen den Worten immer wieder küsste, als könne sie ihm den Atem einhauchen, dann gab es keinen Zweifel, dass alles gut war.
Er habe sie so lieb!, hauchte er. Und das Baby im Bauch auch. Und den Paul sowieso. Und es sei ehrlich so gewesen! Er schwöre
Weitere Kostenlose Bücher