Das Hagebutten-Mädchen
aufgegangen, er schien wirklich bereit zu sein, ihr hier am Fuße des Deiches mehr zu erzählen als heute Morgen in seinen vier Wänden. Er schien Vertrauen zu ihr gefasst zu haben. Und die Angst, sie könnte vielleicht neben dem Täter sitzen und in eine Falle getappt sein, war verschwunden. Dieser Mann hier war kein Mörder. Dazu war seine Geschichte viel zu traurig.
»Wissen Sie, ich habe mir mein Leben auch anders vorgestellt, als ich ein kleiner Junge war. Und wenn ich meinen Neffen Michel so betrachte, dann überkommt ähnlich ist und mich so an meine verpatzten Träume erinnert.«
Wencke ließ ihn einfach reden. Bislang hatte sie kaum ein Wort gesagt, nur an ihrer Zigarette gezogen und zugehört, wenn nicht den Worten, dann der Insel ringsherum, dem Hufgetrappel der Pferdefuhrwerke in den nicht weit entfernten Stallungen zum Beispiel.
»Für mich war es ja eigentlich kein Problem, als ich merkte, dass es bei mir mit dem Heiraten und Kinderkriegen wohl nicht so laufen wird. Doch meine Eltern haben seitdem kein Wort mehr mit mir gesprochen. Das war bitter. Schließlich sollte ich das Haus erben, habe extra eine Ausbildung im Hotel gemacht, danach drei Jahre Akademie für Tourismus und Hotellerie in Bremen. Ich habe sie sogar mit Auszeichnung abgeschlossen.« Er seufzte. »Dann komme ich zurück auf die Insel, die Pläne für den Umbau der Villa Waterkant schon in der Tasche. Die hat mir ein Freund gemacht, Architekt aus Hamburg, alles ganz exklusiv mit kleinem Restaurant und romantischen Zimmern und Wellnessbereich. Sie wäre ein Renner geworden, meine Villa Waterkant. Tja, und dann verliebe ich mich ausgerechnet in den Freund meiner Schwester.«
Wencke drückte die Kippe ins Gras und schaute weiter auf das Watt. Nichts sagen, Wencke, lass ihn reden, ermahnte sie sich.
»Ich wusste ja schon längst, dass ich schwul bin. Nur dachte ich, dass ich mich noch ein paar Jahre mit einem Doppelleben über Wasser halten könnte. Einen Freund auf dem Festland, ein paar Wochenenden rüberfahren, heimliche Treffen in Norddeich, verlogene Besuche auf Juist und so weiter. Ich wusste, dass meine Eltern es nicht dulden würden. Tja, und dann kam Kai. Fair war es nicht, da wir Astrid als Vorwand benutzten, um uns zu sehen. Mehrere Monate lang ging das gut. Bis sie uns erwischt hat.« Er lachte kurz auf. »Einerseits war ich froh, dass es endlich raus war. Andererseits konnte ich meine Koffer packen und mich von meiner Familie verabschieden. Kai überredete mich, nicht zu kneifen und auf Juist zu bleiben. Er hatte ja seinen Laden und wollte nicht weg. Ich bekam dann meinen Posten bei der Reederei und ich muss sagen, die Insulaner waren ganz zahm. Das befürchtete Spießrutenlaufen nach meinem Coming-out war halb so wild. Tja, und dann floss es so dahin, mein Leben. Die Villa Waterkant blieb, wie sie war. Als meine Eltern starben, bekam Astrid das Haus, war ja klar. Sie ist anständig, meine Schwester, hat einen Kredit aufgenommen und mich sofort ausbezahlt. Ich denke, sie muss nun ganz schön knapsen mit dem Geld, aber sie wollte mich wahrscheinlich so schnell wie möglich vom Hals haben, wohl deswegen hat sie mir den Pflichtteil gleich zukommen lassen.«
»Aber Ihre Schwester war doch bei Ihnen, als wir Sie gestern zum ersten Mal verhört haben.«
Er schien sich beinahe zu erschrecken, dass da ja noch jemand neben ihm saß und sich auf einmal zu Wort meldete.
»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh ich war, als Astrid auf einmal in der Tür stand. Kai war tot, und ich dachte, jetzt sei alles vorbei, weil er doch der Einzige war, der mir geblieben ist. Und dann steht da meine Schwester und nimmt mich einfach in den Arm. Da habe ich noch mehr geheult, das können Sie mir glauben. Und sie hat mich ganz fest gedrückt.«
»Wie ist denn nun Ihr Verhältnis?«
»Wenn Sie mich fragen, eigentlich habe ich eine Schwester wie Astrid gar nicht verdient.« Er zog seine Beine dicht an den Körper, schlang seine Arme darum und legte das Gesicht auf die Knie, den Blick von ihr abgewandt. »Und sie hat es nicht verdient, von mir so mies behandelt und hintergangen worden zu sein.«
Es klang wirklich ziemlich tragisch, wie er das sagte.
»Aber die Sache ist doch nun verjährt. Ihre Schwester ist zu Ihnen gekommen und dies sollte Zeichen genug sein, dass sie Ihnen verziehen hat!«, tröstete Wencke, sie überlegte sogar kurz, ihm beruhigend über den Rücken zu streichen.
»Es ist nicht die Geschichte von damals. Es ist eine
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