Das Hagebutten-Mädchen
bei dem lieben Gott!
Wenn er so schaute, hätte sie ihm alles geglaubt. Alles! Sogar diese Geschichte.
Sonntag, 21. März, 13.27 Uhr
D ie Wohnung war ordentlich, beinahe steril.
Sanders hatte während seiner Zeit in Aurich die schlimmsten Behausungen gesehen, die beißendsten Gerüche in der Nase, die höchsten Müllberge vor den Füßen gehabt. Die Durchsuchung dieser Räume war dagegen so angenehm, als blättere man in einem akkurat geführten Aktenordner.
Der Glastisch im Wohnzimmer, die schwarzen Regale vor weißen Wänden erinnerten Sanders an seine alte Einrichtung in Aurich, die er vor seinem Umzug nach Juist aus praktischen Gründen bei eBay versteigert hatte. Nur das geblümte Sofa war ihm eine Spur zu verspielt und die kunstvollen Männerakte in Messingrahmen waren natürlich auch nicht sein Format. Ansonsten gefiel ihm die Wohnung von Henner Wortreich und Kai Minnert. Er hatte sie bei ihrem ersten Besuch gestern gar nicht richtig wahrgenommen, weil er andauernd auf Wenckes schlanke Beine und den kurzen Rock geachtet hatte. Doch was er noch genau wusste, war, dass es etwas unordentlicher hier gewesen war. Nicht richtig schlimm, das Ganze hatte nur irgendwie bewohnter ausgesehen. Nun kam es ihm vor, als wandle er durch die Musterwohnung eines Fertighausanbieters.
Henner Wortreich war nicht da. Genauso wenig wie irgendein Instrument oder wenigstens ein Hinweis auf die Existenz eines solchen. Nichts. Das einzige Indiz, das mit ganz viel Phantasiebegabung zu dieser Geschichte mit dem Hagebutten-Mädchen passte, war die Tatsache, dass Der Schimmelreiter von Theodor Storni in dem penibel nach Alphabet sortierten Bücherschrank zwischen Hermann Hesse und John Irving stand. Zudem waren alle anderen Romane mit einer hauchdünnen, kaum sichtbaren Staubschicht überzogen, während das wertvoll aussehende Novellenexemplar obendrauf keinen Staub vorzuweisen hatte. Es war also in letzter Zeit in die Hand genommen worden, und zwar von jemandem, der normalerweise nicht zwischen diese Bücher griff, sonst hätte es wohl wieder zwischen Sartre und Updike gestanden.
Rüdiger Glaser hatte sich derweil das Schlafzimmer vorgenommen, aber auch er kam mit leeren Händen von seiner Suche zurück. »Hier ist kein Akkordeon, im Bad auch nicht, das habe ich ebenfalls schon inspiziert. Wenn eine Wohnung so aufgeräumt ist wie diese hier, dann würde man doch einen so großen Gegenstand beinahe auf den ersten Blick sehen, meinen Sie nicht, Sanders?«
»Doch, ja, besonders wenn die Wohnung so klein ist. Mehr als sechzig Quadratmeter haben die beiden nicht gehabt. Die müssen wirklich glücklich miteinander gewesen sein, sonst wären die sich auf so engem Raum ziemlich auf den Geist gegangen.« Sanders zog die Schublade eines kleinen, antik aussehenden Kirschbaumsekretärs heraus, es war der letzte Winkel, den er zu durchsuchen hatte. »Haben Sie alle Papiere nachgesehen, Glaser? Vielleicht gibt es ein Testament, Versicherungspolicen, sonstige Schriftstücke, eventuell ein Gutachten über den Wert dieses Instrumentes…«
»Im Schlafzimmer sind nur Bekleidungsgegenstände, zwei Bücher auf der linken Seite des Doppelbettes, habe ich durchgeblättert, aber nichts gefunden, dann noch ein paar Zimmerpflanzen, Deko-Objekte, Stereoanlage, CD- Sammlung, sonst nichts. Und im Bad steht jede Menge Duschzeug und so, aber wirklich nichts Geschäftliches.
Ich wünschte, bei mir zu Hause wäre alles immer so an Ort und Stelle, wie es hier ist.«
Sanders horchte auf. »Sie haben Recht, Glaser!«
Der Kollege schaute ihn etwas verständnislos an.
»Womit habe ich Recht?«
»Hier ist es unheimlich ordentlich, und ich betone dabei: unheimlich!« Er sortierte die wenigen Sachen, die er aus der Schublade gekramt hatte. Reisepass, Blutspendeausweis, Krankenversichertenkarte, alles auf den Namen »Henner Wortreich«, kein einziges Dokument, auf dem der andere Name zu finden war. Es war gerade so, als habe hier immer nur eine Person gelebt, als habe ein Kai Minnert nie auch nur eine Minute seines Lebens in diesen vier Wänden verbracht. »Er hat Minnerts Unterlagen bereits komplett aussortiert. Ehrlich gesagt scheint es mir, als habe hier in den letzten Stunden eine ziemlich intensive Aufräumaktion stattgefunden.«
Glaser nickte zustimmend. »Muss wohl bei den Wortreichs in den Genen liegen. Seine Schwester, Astrid Kreuzfeldt geborene Wortreich, ist bekannt für ihre Pingeligkeit.«
»Und dass Kai Minnert das genaue Gegenteil ist, dafür
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