Das halbe Haus: Roman (German Edition)
Schattenspenderinnen, alte Männer mit wettergegerbten Gesichtern spielen in ihrem Schutze Boule. In unserem Land gibt es immer nur Pappeln und Birken und den Kegelsport. Wenn man selbst so ein ruhiger, alter Knittersack werden will, mit Strohhut auf dem Kopf, kaltem Wein in der einen, Boulekugel in der anderen Hand, dann muss man den Schatten der Platanen suchen. Überhaupt, die Franzosen, die nehmen es leicht, in der Liebe wie im Leben. Die sind nicht so verbissen wie wir Deutschen. Die werden nicht gemütskrank, bei denen ist alles ein Boulespiel.« – »Hör auf mit deinem Gesabbel, sonst drück ich dir die Zähne ein«, sagt Senta, die Zellenschönste. – »Aber Treptow steht voller Platanen«, gibt Mittwoch zu bedenken, mit eigenen Augen hat er es gesehen, irgendwann mal. Die Hochzeit ist noch nicht vorbei, die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Entgegen dem Brauch verbringen Braut und Bräutigam die Nacht miteinander. Senta und Carlo vögeln so heftig, dass der Kleine Gatsby den Bettenturm umstößt. »Was hat er eigentlich angestellt?«, fragt sein Schützling den Konsul im Bett unter sich. – »Er hat ein Paket an seine Schwiegereltern geschickt«, flüstert der Konsul zurück. – »Und was war da drin?« – »Der Kopf ihrer Tochter.« Die Braut hat ein Hämatom am Kopf, das der Zellenfriseur kaschieren muss. Der Zellenfriseur ist er. Der Tauchsieder wird von der Leitung geklemmt, und die Brennschere wird angeschlossen. »Ich will schön sein«, sagt Senta, »gib dir Mühe, sonst drück ich dir die Zähne ein.« Der Papst nimmt die Trauung vor, und dann gibt es ein rauschendes Fest mit nur einmal gebrühten Teebeuteln, Senfbroten und Drehtabak. Die Hochzeitsgäste stoßen mit Terpentin an. Bei der Zählung am nächsten Morgen will Senta alles rückgängig machen. »Ihre Frau«, sagt sein Erzieher, »hat auch eine Ent-Scheidung getroffen.« Sein Erzieher soll seine Bezugsperson im Strafvollzug sein, soll ihn auf dem Weg zur Wiedereingliederung führen, was Gott und Teufel verhindern mögen. Nicht nur ein Mann in Uniform sei der Erzieher, sondern in erster Linie ein Mensch mit Gefühlen. Davon kann man sich am Morgen der Zählung einen Begriff machen, als nämlich sein Erzieher sagt: »Strafgefangener, streichen Sie einfach die Vorsilbe.« Ab da ist nichts mehr erinnerlich. O du schöne Katze im Sack. Was hat sie noch mal gesungen, vor unendlicher Zeit, am Polterabend? Schwamm drüber. Er weiß nur noch, was die Killerband zu Weihnachten gesungen hat. »Es spielen nun für Sie, verehrte Damen und Herren, Gladys Ritter und die Päsche«, sagt der Schließer Abdullah die aus Profimusikern bestehende Combo an, Mörder allesamt. Ein paar hundert Knackis pfeifen, johlen und schreien, als sieben geflügelte Jahresendfiguren auf die Bühne flattern. Es ist wie in San Quentin, als Cash den Folsom Prison Blues spielt. Drei der Engel tragen Posaunen. »He, blas mir auch mal einen.« Die Nacht ist still und heilig, es ist ein Ros entsprungen, und die Türen werden hoch und weit gemacht. Dann fallen die Flügel, und es gibt Jazz, Blues und eine Soulnummer mit deutschem Text: den »Mitternachtszug nach Riesa«. Gladys Ritter ist ein bärtiger Bariton von der Komischen Oper, der die Menschenliebe eines Kannibalen und die Stimme von Barry White besitzt. Er klimpert mit seinen falschen Wimpern, es folgen ein paar Trommelsprünge, und dann geben die Posaunen das Signal zur Abfahrt: »Leipzig war zu viel für den Mann«, singt Gladys Ritter, »also macht er die Biege aus dieser Stadt. Sagt, dass er heimwärts fährt in seine alte Welt, die er wohl verlassen hat vor gar nicht allzu langer Zeit. Er macht die Biege im Mitternachtszug nach Riesa. Sagt, dass er zurückgeht in eine simplere Welt und Zeit. Und ich werde ihn begleiten im Mitternachtszug nach Riesa. Will lieber in seiner Welt leben als ohne ihn in meiner.« Das Publikum beklatscht die erste Strophe, zwei, drei Paare tanzen auf den Sitzen. Man lässt sie. »Er hat geträumt«, singt Gladys Ritter weiter, »dass er eines Tags ein Stern ist.« Der Chor antwortet: »Ein Superstern, aber der ist immer noch fern«, und Gladys Ritter fährt fort: »Aber auf die Beinharte lernte er, dass Träume nicht immer folgsam sind. Also verpfändet er all sein Hoffen, und selbst seinen ollen Warti verscherbelt er. Organisiert ein One-Way-Ticket in sein altbekanntes Dasein. Jawoll!« Die harten Hunde heulen, und das Gedächtnis, sagt Montaigne, Platon zitierend, ist eine
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