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Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Das halbe Haus: Roman (German Edition)

Titel: Das halbe Haus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Cynybulk
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Uns alle gibt es gar nicht. Wir sind Schatten und bleiben es.« – »Und was hast du davon, wenn du mich beschützt?« – »Die Hälfte deines Monatslohns.« – »Wie viel ist das?« – »Kommt drauf an, ob du im Bekleidungswerk Atomanzüge klebst, ob du im Reichsbahnwerk schuftest oder in der Tischlerei, ob du Drähte löten oder Spulen wickeln darfst. Mehr als zwanzig verdienst du aber nur, wenn du die Norm übertriffst. Leider sind die Politischen immer gegen die Norm. Und sie achten zu sehr auf ihre Gesundheit, weil sie noch was vorhaben im Leben.« – »Und wie lange musst du absitzen?« – »So lange, wie die Sonne scheint.« Man muss wirklich höllisch aufpassen, und es ist gut, einen starken Beschützer zu haben, denn der Tod ist billig. Er kostet zwanzig Kröten oder fünf grüne Frösche. Es sind Wärter und Strafgefangene über die Reling gegangen, und dann gab es eben Nachschlag. Das ist niedere Mathematik: Viermal lebenslänglich ist gleich einmal lebenslänglich. So läuft der Hase, horch, und er läuft ins hintere Eck der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg, dorthin, wo der VEB Kontaktbauelemente Luckenwalde günstig produzieren lässt. Ach, das Löten, ist es nicht wunderschön! Du stippst den Draht in den Lötzinn, hältst ihn an die Platine, setzt die Lötnadel an, tauchst die Platine in die Tinktur, stippst einen neuen Draht in den Lötzinn, hältst ihn an die Platine, setzt die Lötnadel an, tauchst die Platine in die Tinktur. Manche saufen die Tinktur, nicht wegen des Zinkchlorids oder des Salmiaks, sondern wegen des bisschen Alkohols. Auf Zelle wird Schnaps gebrannt, Kirschwasser. Auf Zelle werden Bratkartoffeln gebraten, Gewichte gestemmt, Eingaben geschrieben, es wird Zeitung gelesen, geschissen, geschoben, gefilzt, gekotzt, vergewaltigt, alles in einem Raum, der mit dreißig Mann völlig überbelegt ist. »Die Hölle ist zu klein«, lacht der Kleine Gatsby, »die ist definitiv zu klein konzipiert.« Du schaltest ab. Im Nacken kriegst du die Krätze, deine Augenbrauen fallen aus, du träumst, dass grüne Drähte aus den Platinen deines Schädels sprießen, du hast Blut im Stuhl, und dein bester Freund ist gleich nach dem Kleinen Gatsby dein ganz persönlicher Floh. Im Haftkrankenhaus erklärt man dich für kerngesund, im Schach stellst du dich dümmer, als du bist, wenn du gegen Langstrafler spielst. Nur gegen den Konsul strengst du dich an, einen Altertumsforscher mit fataler Sammelleidenschaft. »Sitzen wir nicht alle hier wegen unserer fatalen Leidenschaften?«, sagt der Konsul. »Wegen unserer unsoliden Gefühle? Mittwoch, Sie sind doch ein intelligenter Mensch. Wenn man einen Zug gemacht hat, dann kann man ihn nicht mehr zurücknehmen, so weit können Sie mir doch sicher folgen. Angenommen, Sie studieren Tiermedizin. Da müssen Sie doch auch abwägen, ob Sie in zwanzig Jahren noch die Gesellschaft von Kühen ertragen können. Man muss doch ein verlässliches Bild von sich in zwanzig Jahren haben.« Bei jedem Mittagessen sagt der Erzieher Nietnagel: »Was braucht der Mensch? Kraut und Rüben braucht der Mensch!« Wahlweise braucht der Mensch Eintopf und allen Ernstes Graupensuppe, sehr oft braucht er zerkochte Kartoffeln, so gut wie nie Fleisch. Im Speisesaal hängt eine Uhr, die jeden Monat nur eine Stunde vorrückt. Wenn man sich aus Versehen auf einen Stammplatz setzt, dann gibt das natürlich Ärger, denn auch im Schattenland existiert ein Oben und ein Unten, so ist der Mensch, auch der gefallene. Am Tischende kann man lange auf eine ordentliche Portion warten, als Essenszuteiler lebt man gefährlich und hat bald die Arbeit satt. Einmal gibt es Birnen, Winterbirnen aus der Gegend. Es ist wohl die Säure, die einem die Tränen in die Augen treibt, die dann auch gleich den möhrenfarbenen Schimmer der Prunkfenster wegspülen, das violette Licht der Blumenfenster und das Limonadenlicht der Peitschenlampen. Das Licht, das durch den Glasfirst fällt, ist im obersten Laubengang noch weiß und unten grau. Ein Schrei ist oben noch schrill und unten dumpf. Wenn auf Zelle einer etwas nicht weiß, fragt man den Konsul oder ihn, weil er früher mal, in einer anderen Koje, Bücher-Frank geheißen hat: »He, Mittwoch, Laufvogel mit drei Buchstaben? He, Mittwoch, Laubbaum mit ›ane‹ am Schluss?« – »Ombra mai fu!«, sagt der Konsul. »Allein wegen der Platane lohnt sich die Freiheitsberaubung, Kamerad Mittwoch. Platanen sind die schönsten Bäume der Welt. In Frankreich sind sie

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