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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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weiter schlimm«, erklärte ich. »Die Muskeln sind vom langen Liegen steif. Haben Sie keine Angst. Machen Sie einen Schritt. Ich halte Sie.«
    Von mir gestützt, tat sie behutsam einen Schritt, dann noch einen und noch einen. So führte ich sie bis zu einem Sessel, in den sie sich vollkommen erschöpft, aber glücklich fallen ließ.
    »Ich bin nicht gelähmt! Ich kann laufen!«, sagte sie immer wieder.
    Dann wurde ihr hübsches Gesicht unversehens flammend rot. Ich glaubte, das sei die freudige Erregung, doch im nächsten Augenblick schlug Eugénie die Hände vors Gesicht und schluchzte.
    »Mein Gott, ich schäme mich so! Dieser ehrlose Mensch hat mir solche Erniedrigungen zugemutet! Ich dachte, er wäre Arzt! Ich habe alles getan, was er verlangte … Nein, das ist schrecklich!«
    Ich begriff, was sie meinte. Die üblichen Prozeduren, denen sie als bewegungslose Kranke unterzogen worden war – Massagen gegen das Durchliegen, die Verrichtung der Notdurft und andere Intimitäten –, empfand sie nun als unerträglich beleidigend.
    Bei dem Gedanken, mit welchem Zynismus Lupin das hilflose Mädchen verhöhnt hatte, ballten sich unwillkürlich meine Fäuste.
    Doch es war nicht die Zeit, sich edlem Zorn hinzugeben.
    »Legen Sie die Arme um meinen Hals«, sagte ich. »Und Sie, Holmes, nehmen bitte die Beine von Miss Eugénie. Sie ist sehr schwach. Aber Vorsicht wegen der Schürfwunden. Bis Mitternacht bleibt noch eine Viertelstunde, genug für uns, ohne Eile hinauszugelangen und uns ausreichend weit vom Haus zu entfernen. Selbst wenn Lupin nicht geblufft hat und die Bombe tatsächlichexplodiert, ist das jetzt nicht mehr schlimm, denn das Schloss ist ja versichert. Nun, warum zögern Sie?«
    Holmes dachte nicht daran, auf mich zu hören. Er sah mich lächelnd an.
    »Lieber Watson, ich verstehe Ihren Wunsch, die zarten Arme von Miss Des Essarts an Ihrem Hals zu spüren, aber wir wollen die Mademoiselle doch nicht dem Risiko einer Erkältung aussetzen. Mr. Fandorin sagte, er habe das Rätsel des Codes gelöst. Also lassen Sie uns endlich überprüfen, ob seine Hypothese richtig ist. Es wäre doch wahrhaft schade um das schöne Haus.«
    Die arme Eugénie, die noch immer nichts von dem drohenden Unheil ahnte, verstand seine Worte kaum, und was sie daraus entnahm, deutete sie falsch.
    »Mr. Holmes hat recht. Könnten Sie bitte das Fenster schließen? Mir ist kalt. Und außerdem fürchte ich, die Begonien könnten erfrieren.«
    Sie wies auf einen Blumentopf auf dem Fensterbrett.
    Ich wollte ihrer Bitte nachkommen, doch der Russe hinderte mich daran.
    »Warten Sie mit dem Fenster, Doktor. Ich bitte Sie noch um einen Augenblick Geduld, Mademoiselle. Und Ihnen, Mr. Holmes, möchte ich sagen, dass wir meine Hypothese nicht überprüfen müssen. Monsieur Lupin wird uns selbst erzählen, wo er die B-bombe versteckt hat. Masa, gib mir die Lampe.«
    Der Japaner reichte ihm eine elektrische Taschenlampe, Fandorin trat an das offene Fenster, beugte sich hinaus und leuchtete nach unten.
    »Ausgezeichnet, diese Wolfsnetze«, sagte er.
    Wir liefen zum Fenster.
    Das war ein wahrhaft erstaunlicher Anblick! Im Leuchtkegel des elektrischen Lichts lief »Professor Lebrun«, ganz in ein Netz gewickelt, hin und her.
    »Als Masa und ich das Haus ›verkorkten‹, habe ich unter jedem Fenster eine W-wolfschlinge aus der exzellenten Jagdkollektion von Des Essarts senior installiert«, erklärte der Russe. »Ich erwähnte ja bereits, dass ich dieses Handwerk von den sibirischen Jägern gelernt habe. Aus einem solchen Netz kommt man unmöglich ohne fremde Hilfe frei – es sei denn, man hat eine große Axt dabei. He, Professor! Bis zur Explosion bleiben noch zwölf Minuten! Wenn Sie nicht unter den Trümmern sterben wollen, erzählen Sie uns, wo das geheime Versteck ist.«
    Die Antwort war ein wütendes Knurren. Dann tauchte in einer Masche des Netzes eine Revolvermündung auf, und ein Schuss krachte – wir konnten uns gerade noch zurückziehen.
    »Exzellent, Kollege«, sagte Holmes voller Respekt. »Kompliment. Und wie steht’s mit unserem lieben Verwalter?«
    Fandorin schaute zu dem Japaner. Der nickte. Nun war mir klar, warum Shibata bei der Jagd auf den Verwalter keinen besonderen Eifer gezeigt hatte und ihm nicht hatte in den Park folgen wollen. Der Asiat wusste, dass Bosquot ohnehin in die Falle gehen würde.
    »Der Verwalter ist durchs Fenster geflohen und hängt auch in so einem Netz fest. Lassen wir Monsieur Lupin einstweilen, er ist ein

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