Das Halsband des Leoparden
»Geben Sie es zu, meine Freunde: Als ich sagte, dass ich den Code schon vor Mr. Fandorin entschlüsselt hätte, hielten Sie das für Prahlerei. Aber es ist die reine Wahrheit. Anhand der blitzsauberen Orgeltasten hatte ich gleich einen Verdacht, was das für ein Code war. Ich musste es nur überprüfen. Darum bat ich Watson, mir den Geigenkasten zu bringen, der eine Sammlung der bekanntesten Musikstücke enthält. Welches ich mir als Erstes ansehen musste, sagte mir das Mephistophelesbild an der Wand … Das ist schon die ganze Deduktion. Ich ging hinunter ins Orgelzimmer, öffnete das Versteck und fand dort zu meiner Überraschung keine Bombe, sondern eine Truhe mit Schmuck. Die Hypothese, die ich nach dieser Entdeckung entwickelte, kam der Wahrheit ziemlich nahe. Nur in einem Punkt irrte ich: Ich hielt Des Essarts und Bosquot für ein und dieselbe Person. Dieser Irrtum ließ mich später an der Richtigkeit meiner Vermutung zweifeln. Ichglaubte an die Unschuld dieser Schauspielerin. Mein Gott, ich bat sie sogar um Verzeihung!«
Watson-Sensei kramte noch immer in den Schmuckkästchen.
»Aber warum mein Koffer, Holmes?«
»Die Idee kam mir, als ich entdeckte, dass die Truhe und Ihr Koffer die gleiche Größe haben. Ich dachte: Monsieur Lupin wollte sich mit mir einen Scherz erlauben, nun, dann werde ich ihn auch ein wenig foppen. Mich interessierte, wie er vorgehen würde. Ich vermutete zu Recht, dass Lupin keine Zeit damit verschwenden würde, die Schlösser Ihres Koffers zu öffnen. Es würde ihm gar nicht in den Sinn kommen, dass es außer ihm noch andere Leute auf der Welt gibt, die einen guten Scherz zu schätzen wissen. Offen gestanden, habe ich noch einen weiteren Fehler gemacht. Als ich sah, dass der Sack, den ›Des Essarts‹ mitbrachte, echte Geldscheine enthielt (zumindest oben), würdigte ich seine Pedanterie. Aber ich hatte Lupins Großzügigkeit unterschätzt, seinen Hang zu großen Gesten. Ich war überzeugt, dass er sich nicht mit dem Inhalt des Verstecks begnügen, sondern auch die Franc zurückhaben wollen würde. Ein grober Fehler. Oder zumindest ein halber Fehler. Nicht der Anführer wollte sich das Geld holen, sondern sein Komplize – aus Gier auf die Vierzigtausend. Tja … Bei dieser Geschichte hat jeder Verluste erlitten. Arsène Lupin hat für vierzigtausend Franc Watsons Hemden und Unterhosen erworben. Watson steht ohne Koffer da. Mr. Shibata ist voller Schrammen und blauer Flecke. Bosquot hat ein halbes Ohr einbebüßt. Der falsche Professor hat sich den Finger abgeschossen. Und wir beide, Fandorin, haben uns die Gelegenheit entgehen lassen, einen genialen Betrüger zu fangen. Wie dem auch sei« – er blickte zur Uhr –, »seit zwanzig Minuten leben wir nun in einem Jahrhundert, das mit ›neunzehnhundert‹ beginnt. Nach dem Vorspiel zu urteilen, verheißt das neue Jahrhundert Schlauköpfen wie uns beiden nicht die angenehmsten Überraschungen.«
»Was ist das?«
Der Doktor trat ans Fenster (wir befanden uns im ersten Stock). Weit hinten, am Tor, bewegten sich Lichter. Dann vernahmen wir einen durch die Entfernung gedämpften Pfiff.
»Holmes! Dieser unverschämte Kerl hat tatsächlich die Polizei gerufen!«
»Nichts wie weg, Watson. Aber vorher legen wir den Schmuck zurück an seinen Platz. Wenn die Schlossherren zurückkommen, werden sie nicht verstehen, was die Einbrecher hier wollten: Sie bauen im Turm ein merkwürdiges Folterinstrument mit Tropf auf, nehmen im Speisezimmer einen üppigen Imbiss, legen unter den Fenstern Fangnetze aus, werfen einen Blumentopf herunter und hauen dann ab. Und stehlen nichts von Wert. Das Verschwinden des treuen Verwalters wird den Des Essarts’ zweifellos ebenfalls Kopfzerbrechen bereiten …«
Als wir die Geheimkammer wieder verschlossen hatten und durch den Dienstbotenausgang das Haus verließen, sagte Fandorin-Dono mit einem Seufzen: »Wir haben uns selbst überlistet. In Russland sagt man: Auf jeden Weisen kommt genug Einfalt.«
»Bei uns gibt es dafür einen Kinderreim. Über drei Einwohner des Dorfes Gotham, wo der Legende zufolge die allergrößten …« – Sherlock Holmes machte eine Pause –, »die allergrößten Schlauköpfe von ganz England leben.«
Er rezitierte ein kurzes Gedicht, das mich durch seine Tiefe und die wahrhaft japanische Eleganz seiner Metapher entzückte. Sinngemäß sagt dieses Meisterwerk, dass Drei Weise unschwer den Weg zur Wahrheit finden, selbst wenn sie sich in einem untauglichen Gefäß auf die Reise
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