Das Halsband des Leoparden
Kälte, nur noch Schwärze.
XVI
O verehrte Meisterdetektive!
Ich habe Sie doch nicht umsonst eingeladen. Sie haben mich nicht enttäuscht. Seit Weihnachten, seit die Des Essarts’ nach Nizza abgereist sind, habe ich mir den Kopf zerbrochen über das Rätsel ihres Geheimverstecks mit der berühmten karibischen Truhe darin. Mein braver Bosquot, der sich im Schloss als Verwalter verdingt hatte, fand in einem Notizbuch den Code, aber ich vermochte ihn nicht zu knacken. Und das nur, weil ich als Kind keinen Musikunterricht hatte. Wie schade!
Danke für Ihren Hinweis, Monsieur Fandorin. Sie bedauerten, dass Sie nie Musikunterricht hatten (genau wie ich, genau wie ich!), und das genügte mir. Natürlich, Mephistopheles! »Ja, das Gold regiert die Welt …« Die passende Melodie zum Öffnen des Verstecks mit der Korsarentruhe. Eines muss man dem seligen »Papa« lassen: Er hatte Witz.
Als ich das von der Musik und von Mephistopheles hörte, traf es mich wie ein Schlag. Ich gab ssang zu den klirrenden Orgeltönen: ofort dem »Professor« ein Zeichen, dass es Zeit sei für die Endphase der Operation. Ich gestehe, bei der Schlossbesichtigung verheimlichte ich Ihnen etwas: einen kleinen Kellerraum, in dem die Abhörrohre des ganzen Hauses zusammenlaufen und wohin ich auch einen Telefonanschluss gelegt hatte.
Die liebe Susette! Sie galt zu Recht als die begabteste und stimmgewaltigste Schauspielerin am ganzen Operettentheater. Ihren Schrei
hörte ich sogar im Keller. Wie ich mein Mädchen kenne, wird sie Ihnen mindestens eine halbe Stunde Theater vorspielen, sodass ich diesen Brief in Ruhe zu Ende schreiben kann.
Ach ja. Den Sack mit dem Geld überlasse ich Ihnen. Die Francs darin sind größtenteils falsch, bis auf die oberen vier Bündel. Ich hatte schließlich jedem von Ihnen zwanzigtausend versprochen, und Lupins Wort ist ehern.
Ein frohes neues Jahrhundert, meine Herren!
Ihr dankbarer und Sie bewundernder
Michel-Marie Christophe Des Essarts du Vaux Garni.
P.S. Bevor ich verschwinde, werde ich die Polizei anrufen und melden, dass Einbrecher ins Schloss eingedrungen sind. Ich rate Ihnen also, nicht mehr allzu lange zu bleiben.
Ich las den Brief laut vor. Sein Inhalt schockierte mich so, dass ich vollkommen mechanisch vorlas – ich sprach nur laut aus, was meine Augen wahrnahmen. Als ich fertig war, las ich den Brief noch einmal, still für mich, um ihn zu begreifen.
In der engen Kammer, aus der (mit unserer Hilfe!) die Schätze der Familie Des Essarts gestohlen worden waren, herrschte lastendes Schweigen.
»Verflucht!«, murmelte ich. »So hat er uns doch überlistet. Der Schlossherr, der echte Des Essarts, kennt keine Noten und misstraut seinem Gedächtnis, darum hat er die Reihenfolge der Tasten in seinem Notizbuch festgehalten. Und wir haben Lupin geholfen, den Code zu entschlüsseln!«
Holmes’ Gesicht erstarrte in einem seltsamen Lächeln, das mir wie eine nervöse Grimasse erschien.
»Wie denken Sie jetzt über Arsène Lupin, Sir?«, fragte er Fandorin.
Der russische Detektiv, dem die britische Beherrschtheit abging, schlug mit der Faust gegen die Steinmauer, von der Putz bröckelte.
»Ich verstehe.« Holmes nickte. »Und wenn Sie es in Worte fassen?«
Fandorin nahm sich zusammen.
»Hm.« Er räusperte sich. »Ich will es v-versuchen. Wir lagen beide falsch mit unseren Vermutungen – erstens. Ich habe zu Unrecht Vater und Tochter aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschlossen, und Sie hielten irrtümlich Des Essarts und Bosquot für ein und dieselbe Person. Dass wir die beiden nie gleichzeitig zu Gesicht bekamen, ist leicht zu erklären: Einer musste ständig im Keller sitzen und lauschen, worüber wir sprachen. Zweitens: Lupin ist kein so brutaler Schurke, wie ich dachte. Er ist sehr erfinderisch und dreist. Aber, wie man bei uns in Russland sagt, auch eine alte Dame kann sich irren. Und drittens. Lupin hat zwei Dinge nicht vorausgeahnt. Dass Bosquot es aus purer Habgier auf die Vierzigtausend aus dem Sack abgesehen haben würde. Und dass ich von sibirischen Jägern das Auslegen von Fangnetzen gelernt habe. Der A-anführer ist zwar mit der Beute auf und davon, aber seine Komplizen sind in unserer Hand …«
Plötzlich wurde der Russe ganz bleich.
»Verdammt! Die Mademoiselle … Masa!«
Er rannte so plötzlich los, dass er mich beinahe umriss.
Aber genug von der Leere und Schwärze, in der die Seele versinkt, wenn sie sich vom Verstand gelöst hat. Diese Materie ist zu kompliziert und
Weitere Kostenlose Bücher