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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Sie«, unterbrach Holmes den Russen. »Haben Sie auch erraten, um was für ein Stück es sich handelt?«
    »Zum Teufel mit Ihnen, Holmes!«, brüllte ich. »Wir müssen doch noch das Uhrwerk abschalten! Geben Sie her!«
    Ich riss Fandorin das Notizbuch aus der Hand und drückte die bezeichneten Tasten.
    »Wahrscheinlich hat es etwas mit Mephistopheles zu tun«, mutmaßte der Russe nachdenklich. »In welchem Jahr wurde Charles Gounods Faust-Oper ›Margarethe‹ uraufgeführt?«
    »Großartig, Kollege! Die Oper hatte 1860 in Paris Premiere, kurz vor dem Tod von Des Essarts senior. Es war die populärste Oper der Saison. Die Partitur verkaufte sich besser als jeder Boulevardroman.«
    Vor langer Zeit hatte ich einmal ein wenig von Musik verstanden, doch diese verfluchten Musikliebhaber brachten mich durcheinander, und ich musste noch einmal von vorn anfangen.
    »24 blanc, 25 blanc, 18 noir, 24 blanc, 25 blanc, 23 blanc, 24 blanc.«
    24 weiß, das war ein c in c-moll, dann d, dann des, dann c, d, h, c.
    Fandorins Taschenuhr schickte sich rasselnd an, Mitternacht zu schlagen. Holmes sang zu den klirrenden Orgeltönen: »Le veau d’or est toujours debout …« 8 Meinen Glückwunsch, Fandorin!«
    Die gesamte Eichenverkleidung hinter der Orgel, die ich beim Schlossrundgang gründlich abgetastet und abgeklopft hatte, ohne etwas Verdächtiges festzustellen, glitt zur Seite – exakt beim sechsten Schlag der Uhr.
    Dahinter lag eine große dunkle Nische beziehungsweise eine kleine Kammer. Fandorin leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Nach dem Staub auf dem Fußboden zu urteilen, hatte hier noch vor kurzem etwas Rechteckiges gestanden, doch nun war das Geheimversteck leer.
    Bis auf ein akkurat zusammengefaltetes Blatt Papier.

    Ich mag es, wenn es schneit. Wahrscheinlich bin ich in den vielen Jahren in Russland ein halber Russe geworden. Seltsam – in Amerika habe ich fast genauso lange gelebt, fühle mich aber nicht als Amerikaner. Doch eigentlich ist das nicht weiter erstaunlich. Mein Herr sagt oft, dass wir beide uns auf einer langen Reise befinden und eines Tages für immer nach Hause zurückkehren werden.
    Ich stand mit dem Rücken an die Turmmauer gelehnt, und große Schneeflocken fielen auf mein Gesicht. Sie kitzelten mir die Wangen, und ich musste lächeln.
    Ich dichtete sogar einen Dreizeiler:
    Auf fremdem Gesicht
    Ein lang vertrautes Lächeln.
    Schnee in der Fremde.
    Den Himmel mit einem Gesicht zu vergleichen ist nicht schlecht, aber »fremd« und »Fremde« hintereinander, das klingt nicht elegant. Ich werde später für eins von beiden ein Synonym gleicher Länge finden müssen.
    Ich fühlte mich wohl unter dem fallenden Schnee, mir war nur ein wenig kalt.
    Um nicht so sehr zu frieren, ärgerte ich hin und wieder den gefangenen Banditen. Ich trat hinter der Turmmauer hervor und fragte: »Haben Sie es nicht satt, sich am Boden zu wälzen, verehrter Doktor?«
    Dann knurrte er und schoss auf mich. Ich wich aus, und das erwärmte mich für ein, zwei Minuten.
    Nach dem ersten Schuss öffnete sich über der Stelle, an der ich das Haiku gedichtet hatte, ein Fenster, und das Köpfchen von Desu-San schaute heraus.
    »Alles in Ordnung bei Ihnen?«, rief sie und rückte einen Blumentopf beiseite.
    »Keine Sorge, Miss. Schließen Sie das Fenster, sonst erkälten Sie sich.«
    »Nein! Ich leiste Ihnen Gesellschaft!«
    »Dann wickeln Sie sich in einen Plaid, und vor allem, beugen Sie sich da oben nicht so weit heraus, sonst könnte dieser Schurke hier auf Sie schießen.«
    Nun ging es mir noch besser.
    Ich bot mein Gesicht den Schneeflocken dar, ärgerte den Gefangenen, suchte nach einem passenden Synonym, und ab und zu sprach die junge Desu-San mich an und ich antwortete.
    Amüsant wurde es, als der Bandit zum dritten Mal auf mich schoss. Die Mündung seines Revolvers verhedderte sich im Netz, und die Kugel flog ganz woandershin als geplant.
    Er fluchte unflätig. Soviel ich verstand, hatte der Trottel sich ein Stück Finger abgeschossen. Geschah ihm ganz recht.
    Ich lachte sehr.
    Wegen der Bombe machte ich mir keine Sorgen. Mein Herr hatte gesagt, er habe das Rätsel »wahrscheinlich« gelöst, also war alles in Ordnung. Fandorin-Dono verspricht immer weniger, als er dann tut.
    Was weiter mit mir geschah, weiß ich nicht.
    Eben noch hatte ich dagestanden und im Kopf nach Synonymen für das Wort »fremd« gesucht: unbekannt, namenlos, seltsam, merkwürdig, exotisch – und auf einmal war alles weg.
    Kein Schnee mehr, keine

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