Das Halsband des Leoparden
rauchte im Park eine Pfeife, mittags aß er im Pub, und gegen Abend ging er mit vollem Recht zum Teetrinken in den Flügel.
Mr. Parsley und Miss Palmer unterhielten sich auf besondere Weise: Er las aus dem »Standard« vor, meist aus dem Kriminalreport; sie äußerte ihre Meinung zu dem Vorgelesenen; der Butler gab ihr unweigerlich recht und las den nächsten Artikel vor. Gegenstand der Debatte bei Fandorins erster Teestunde war eine Notiz mit einer reißerischen Überschrift:
Tod in der Kloake
Stilett-Dick gefunden. – Aber wo ist Inspector O’Leary?
Bei der allmonatlichen Reinigung der Abwasserrohre unter der Oxford Street fanden Kanalarbeiter den Leichnam eines an die Leiter des Kanalabstiegs geketteten Mannes. Nach dem Zustand des Köpers zu urteilen, war Auszehrung die Todesursache.
Das Gesicht des Toten ist von Ratten zerfressen, doch anhand der Tätowierung und der Narbe am Hals konnte ermittelt werden, dass es sich um den berüchtigten Stilett-Dick handelt, der in Whitechapel drei Menschen getötet hat. Scotland Yards bester Detektiv Inspector O’Leary hatte den Mörder verfolgt, bis er vor dreieinhalb Wochen spurlos verschwand. Die Polizei war überzeugt, Stilett hätte seinen Verfolger getötet und den Leichnam vergraben oder in die Themse geworfen, doch der heutige Fund verwirft diese Hypothese und lässt hoffen, dass der tapfere Inspector noch lebt. Die in dem übelriechenden unterirdischen Gewölbe gefundenen Handschellen gehören jedenfalls O’Leary.
Der Dolch, dem Dick seinen grausigen Spitznamen verdankt, befand sich nicht bei der Leiche. Anderenfalls hätte der Angekettete mit der Klinge das Schloss öffnen und sich befreien können. Es ist logisch, anzunehmen, dass der Inspector den Bösewicht entwaffnete, nachdem er ihn gestellt hatte. Der Ablauf der Ereignisse ist unschwer zu erraten: O’Leary stellte den Verbrecher und kettete ihn an die Leiter, dann entfernte er sich aus irgendeinem Grund und kam nicht zurück. Dick, der sich nicht fortbewegen oder um Hilfe rufen konnte, starb nach zwei oder sogar drei Wochen qualvollen Hungerns. Seinen Durst konnte er stillen: Direkt zu seinen Füßen verlief eine Abflussrinne – ein widerliches Gesöff, aber zumindest ausreichend, den Flüssigkeitsbedarf des Organismus zu decken.
Doch obgleich die Umstände des Todes von Stilett-Dick mehr oder weniger klar sind, enthält diese Geschichte noch Rätsel. Warum überließ Inspector O’Leary, ein als streng, aber gesetzestreu bekannter Polizist, den Verhafteten einem so grässlichen Tod? Und vor allem: Wo ist O’Leary?
Wird die Öffentlichkeit je eine Antwort auf diese Fragen erhalten, oder werden sie für immer ein Geheimnis bleiben, wie kürzlich im Fall Jack the Ripper?
»Ein dummer Vergleich!«, fauchte Mr. Parsley und legte die Zeitung beiseite. »Ich bin kein Detektiv, aber ich ahne, was da passiert ist. Dieser O’Leary ist Ire, wie der Name verrät, also trank er gern einen über den Durst. Er hat den Banditen im Abwasserkanal gefangen, entwaffnet, in Handschellen gelegt und ist trinken gegangen. Den Burschen hat er an die Eisenleiter gekettet, damit er nicht weglief. Und wie die Iren trinken können, das weiß ich. Erinnern Sie sich an Pete O’Reilly, Miss Palmer? Der bei uns unterster Kammerdiener war? Bestimmt trinkt auch unser Inspector wochenlang rund um die Uhr. Oder er wurde irgendwann wieder nüchtern, begriff, was er angerichtet hat, und versteckt sich nun irgendwo. Das ist das ganze Geheimnis.«
»Nicht übel, die Hypothese«, bestätigte Miss Palmer und schenkte ihren Gästen Tee nach. »Und was meinen Sie, Sir? Erscheint Ihnen dieser Fall auch weniger rätselhaft als die Geschichte mit Jack the Ripper?«
Für Fandorin war die Geschichte von Jack the Ripper überhaupt kein Geheimnis, aber das sagte er natürlich nicht. Er hatte auch eine Vermutung hinsichtlich des Verschwindens von Inspector O’Leary (das war kein großes Rätsel), doch wozu sich sinnlos engagieren? Er sagte nur: »Ich kenne mich ein wenig aus mit Polizisten. Ein alter Polizeihase geht nicht trinken, bevor er den Verbrecher auf dem Revier abgeliefert und ein P-protokoll darüber aufgesetzt hat. Das ist entscheidend für das Fortkommen im Dienst und für Auszeichnungen.«
»Tja, dann weiß ich nicht.« Mr. Parsley zuckte die Achseln. »In der Tat ein Rätsel. Das kann höchstens Miss Palmer lösen.«
Fandorin lächelte höflich, in der Annahme, das sei ein Scherz.
Wie erstaunt war er darum, als die alte
Weitere Kostenlose Bücher