Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
waren sie der Prinz und die Prinzessin, und er fand Wiprechts Anmerkung ziemlich unverschämt.
Aber genau das war ja Wiprechts Aufgabe, führte der Prinz sich vor Augen: ihm auch dann die Wahrheit zu sagen, wenn sie unbequem war. Die meisten seiner Männer hatten solche Angst vor Henning, dass sie sich lieber die Zunge herausgerissen hätten, als ihm die ungeschminkten Tatsachen darzulegen. Wiprecht nicht. Er hatte Respekt vor seinem Prinzen, aber keine Furcht. Und er stand unerschütterlich auf seiner Seite. Henning wusste das zu schätzen, auch wenn er Wiprecht insgeheim nicht sonderlich mochte.
»Wir müssen die Pferde schlachten«, sagte Hildger grimmig. »Uns bleibt gar nichts anderes übrig.«
Hildger war der finsterste von Hennings drei Gefährten. Mit seiner gedrungenen Statur, dem dunklen Zottelschopf und den zusammengewachsenen schwarzen Brauen wirkte er gnomenhaft, wie ein Unhold, den man in den Schatten zwischen den Bäumen bei Dämmerung im Wald zu sehen glaubte. Sein Naturell entsprach seinem Äußeren: Er war argwöhnisch, rechnete immer mit dem Schlimmsten und traute niemandem. Das machte ihn zu einem hervorragenden Leibwächter.
»Wenn wir die Pferde schlachten, können wir uns auch gleich ergeben«, widersprach Volkmar, der mit seinen blauen Unschuldsaugen und seiner Frohnatur das perfekte Gegenstück bildete.
»Aber wir können die Männer nicht noch länger darben lassen«, wandte Wiprecht ein. »Es ist gefährlich, da hat der Prinz ganz recht.«
»Heute Nacht gehe ich über die Palisade«, stellte Volkmar in Aussicht. »An der Seite, die dem königlichen Lager abgewandt ist, seile ich mich ab. Ich nehme zwei meiner Männer mit – ich weiß schon genau, welche –, und vor Morgengrauen sind wir mit Vorräten zurück.«
Henning nickte versonnen. »Ich muss darüber nachdenken. Ich gebe dir Bescheid, bevor es dunkel wird. Komm nicht auf die Idee, ohne meine Erlaubnis zu gehen, Volkmar«, fügte er hinzu.
Der junge Grafensohn schüttelte ernst den Kopf. »Ich bin ja nicht lebensmüde.«
Henning lächelte flüchtig.
Als seine drei Gefährten sich verabschiedet hatten, ließ Judith den kleinen Handstickrahmen sinken, dem sie während der Lagebesprechung scheinbar ihre ganze Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und riet eindringlich: »Lass ihn nicht gehen, Henning. Es war Thankmars Provianttrupp, den Otto vor der Eresburg abgefangen und einen nach dem anderen abgeschlachtet hat.«
»Das habe ich nicht vergessen«, beschied er kurz angebunden.
Sie ließ sich von seinem Tonfall nicht abschrecken und spann ihren Gedanken zu Ende: »Wenn du tatenlos zuschaust, wie Otto Volkmar den Kopf abschlägt, wird Volkmars Vater uns den Rücken kehren. Aber du brauchst den Harzgau.«
Er nickte unwillig, stand auf und schenkte sich einen Becher aus dem Weinkrug auf dem Tisch voll. Es war ein heißer Tag, und es war stickig in der Kammer im Obergeschoss der Burg. Auch der Wein war zu warm, doch Henning trank durstig und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Lange können wir nicht mehr aushalten. Wir brauchen neue Vorräte.«
Judith nahm ihre Arbeit wieder auf. Sie stach die Nadel in das feine Leintuch und zog den grünen Wollfaden behutsam hindurch. Den Blick auf ihr Machwerk gerichtet, fragte sie: »Und was geschieht danach? Selbst wenn Volkmar Erfolg haben sollte, was ist in einer Woche? Wie lange willst du hier ausharren?«
Er zuckte ungeduldig die Achseln. »Bis Giselbert sich von unserem kleinen Rückschlag erholt hat und mit seinen Truppen die Grenze nach Sachsen überschreitet. Spätestens dann muss Otto von hier abziehen.«
Sie antwortete nicht. Das war ihre Art, ihm mitzuteilen, dass sie anderer Meinung war als er.
»Was?«, fragte er barsch. »Nur raus damit. Du denkst, es ist falsch, abzuwarten?«
»Ich denke, wenn Giselbert die Grenze überschreiten wollte, um uns zu Hilfe zu kommen, hätten wir es inzwischen gemerkt. Giselbert ist im Grunde ein Feigling, Henning. Er wartet ab, wie die Dinge sich hier entwickeln, und wenn Otto uns überrennt und gefangen nimmt, wird Giselbert reumütig auf seine Seite zurückkehren.«
Er fürchtete, sie könnte recht haben, aber er brauste auf: »Giselbert und ich haben einen Eid getauscht!« Dann winkte er ab. »Davon verstehen Weiber nichts. Also halt die Klappe und erspar mir deine Verdächtigungen. Es reicht, wenn Hildger mir damit in den Ohren liegt.«
»Vergib mir, mein Gemahl«, bat Judith höflich, aber nicht furchtsam, und stickte
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