Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
der Sohn Gottes und ist Mensch geworden, um am Kreuz für die Menschen zu sterben und damit die Sünden der Welt hinwegzunehmen, hat Vater Gerwald gesagt. Nicht, dass ich das verstehe …«
»Das wirst du«, gab Widukind zuversichtlich zurück. »Als Jesus sechs Stunden am Kreuz gehangen hatte und leblos schien, stieß ein römischer Hauptmann ihm eine Lanze in die Seite, um sich zu vergewissern, dass der Gekreuzigte auch wirklich tot war. Das war die heilige Lanze und …«
»Woher willst du das wissen?«, unterbrach Tugomir kritisch. »Es ist ziemlich lange her, oder?« Er sah seinem wimmernden Patienten über die Schulter und knurrte: »Jetzt reiß dich zusammen, Mann.«
»Der Hauptmann – sein Name war Longinus – hatte ein Augenleiden«, antwortete Widukind. »Als das Blut Jesu aus der geöffneten Seite in Longinus’ Auge tropfte, wurde es auf der Stelle geheilt. Gott offenbarte sich ihm in diesem Wunder, genau wie dir heute, und Longinus bekannte sich zum wahren Glauben. Er begriff, dass die Lanze, an der das heilige Blut haftete, etwas Kostbares war. Darum bewahrte er sie auf, und die ersten Christen verehrten sie und hüteten sie sorgsam und bewahrten ihre Geschichte. Die Lanze bewirkte viele Wunder, und schließlich gelangte sie zu einem anderen römischen Hauptmann, der sich ebenfalls zum wahren Glauben bekannte und dafür den Märtyrertod starb, nämlich kein anderer als der heilige Mauritius, den wir im Kloster zu Magdeburg verehren. Mauritius ist aber auch der Schutzheilige von Burgund, und irgendwie haben die Burgunder die Lanze an sich gebracht. Doch König Ottos Vater kaufte sie dem König von Burgund ab. Für einen Zipfel des Reiches, ob du’s glaubst oder nicht. Das war vor etwas über zehn Jahren. Und in der Schlacht bei Riade gegen die Ungarn hat sie zum ersten Mal ein Wunder für einen unserer Könige gewirkt und ihm den Sieg geschenkt. Heute zum zweiten Mal.«
»Warum?«, fragte Tugomir. »Die slawischen Völker opfern ihren Göttern. Sie schmieden ihnen Füllhörner und Schilde aus Silber oder sogar Gold, um ihnen ihre Verehrung zu beweisen, in der Hoffnung, dass die Götter ihnen eine reiche Ernte oder den Sieg in der Schlacht schenken. Aber diese schäbige Lanze, mit der obendrein Gottes Sohn Schmach zugefügt wurde? Wie kann sie ein Wunder bewirken?«
»Das hab ich auch nie verstanden«, bekannte der Soldat mit weinerlicher Stimme.
»Es liegt daran, dass das Blut Christi an ihr haftet, selbst wenn unsere Augen es nicht mehr sehen können«, erklärte Widukind. »Hast du die gekreuzten Nägel gesehen, die in die Lanze eingearbeitet sind?«
Tugomir nickte.
»Auch an ihnen haftet sein Blut, denn es sind jene Nägel, mit denen Jesus ans Kreuz geschlagen wurde. Sein Blut ist ein Teil seines Leibes, richtig? Sein Leib ist von den Toten auferstanden und in den Himmel aufgefahren, und dort sitzt er zur Rechten des Vaters. Aber ein winziger Teil seines Leibes ist immer noch hier auf Erden und haftet an der Lanze. Wer sie in Händen hält, steht deswegen in direkter Verbindung mit Christus und mit Gott. Das ist es, was ihr die Macht verleiht. Und diese Verbindung wird natürlich umso wirksamer, wenn es ein gesalbter und von Gott auserwählter König ist, der die Lanze in Händen hält. Versteht ihr?«
Der Graubart nickte, zuckte zusammen und jaulte auf, als die Nadel wieder in sein Fleisch stach.
Tugomir nähte unbeirrt weiter und machte schließlich einen winzigen kunstvollen Knoten. »Du bist erlöst«, sagte er seinem Patienten. Und zu Widukind: »Es ist eine fremdartige und sonderbare Vorstellung für mich. Ich muss darüber nachdenken.« Während der Graubart von dem Schemel aufstand und unter leisem Stöhnen davonschlurfte, blickte Tugomir auf seine Handrücken hinab. »Diese Tätowierungen sind unauslöschlich, Widukind«, sagte er, als sie allein waren. »Das heißt, alles, was die Priester der Götter meines Volkes mich gelehrt haben, ist ebenfalls unauslöschlich. Alle Erfahrungen, die ich als Priester und als Heiler mit dem Göttlichen und der Geisterwelt gemacht habe, sind unauslöschlich. Ich gebe dir recht, wenn du sagst, dass der Gott der Christen mir etwas sagen wollte mit dem Wunder, dessen Zeuge ich heute geworden bin. Dass er etwas von mir fordert. Und ich ahne, was es ist. Aber … mir graut davor.«
»So ergeht es uns allen, die er auserwählt, sein Werk zu tun, schätze ich. Jedenfalls dann und wann«, bekannte Vater Widukind. »Aber du eilst mit deinen
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