Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
übergeben«, mahnte Widukind. »Nur er hat das Recht, das Urteil über ihn zu sprechen, nicht du.«
»Nein?« Tugomir sah kurz über die Schulter zu ihm hoch und schenkte ihm ein Lächeln. Dann lockerte er die würgende Kette ein wenig, zückte mit der freien Hand sein Messer, setzte es Maincia an die Kehle und durchtrennte sie mit einem präzisen, fachmännischen Schnitt von Ohr zu Ohr. Er richtete sich auf und sah dem Sterbenden in die Augen, bis der Blick brach. Blutbesudelt wandte Tugomir sich Widukind schließlich wieder zu und sagte: »Leider ist Maincia seinen schweren Verletzungen erlegen, ehe er der königlichen Gerechtigkeit zugeführt werden konnte.« Und auf dem Weg zum Ausgang befahl er: »Bringt Thankmars Kette dem König. Aber wascht sie vorher ab.«
Merseburg, Mai 939
Obwohl der König nach der Schlacht sofort die Verfolgung aufgenommen und stundenlang die Wälder durchkämmt hatte, waren Giselbert und Henning ihm entwischt. Aber dank der Boten, die er ins ganze Reich aussandte, verbreitete die Kunde über das »Wunder von Birten« sich wie ein Schilffeuer. Hundert königstreue Panzerreiter hätten zweitausend lothringische Soldaten in die Flucht geschlagen und den abtrünnigen Prinzen verwundet, erzählten sich die Leute in Köln und in Aachen, doch als die Nachrichten nach Magdeburg und Regensburg gelangten, hieß es bereits, ein Dutzend Panzerreiter hätte zehntausend Lothringern den Garaus gemacht, und Prinz Henning zähle zu den Gefallenen. Die sächsischen Grafen, die sich der Revolte des Prinzen angeschlossen hatten, gerieten in Panik, und Otto konnte ihre Burgen kaum so schnell belagern, wie sie ihm die Tore öffneten.
Verwundet, aber äußerst lebendig war Henning auf Giselberts Drängen hin nach Sachsen zurückgekehrt, um die Bündnisse mit den Grafen zu retten, ohne deren Unterstützung ihre Revolte gegen Otto keine Zukunft haben konnte. Doch aus Hennings Heimkehr war eine Flucht geworden, und nun fand er sich seit beinah zwei Monaten mit einer Handvoll Getreuer in der letzten ihm verbliebenen Burg, der Pfalz von Merseburg, eingeschlossen.
Vor den Toren der Burg lagerte am Ufer der Saale Otto mit seinem Heer – reglos und geduldig wie eine Katze vor dem Mauseloch. Bis auf die Wachen war in ihrem Lager niemand zu sehen. Sie griffen weder das Tor noch die Palisaden an, sondern hockten in ihren Zelten und warteten. In aller Seelenruhe.
»War es das, was Thankmar gesehen hat, als er von der Eresburg ins Tal hinuntergeblickt hat?«, fragte Henning. Seine eigene Stimme klang ihm fremd in den Ohren. Er räusperte sich entschlossen.
Judith streckte ihm die Hand entgegen. »Komm weg vom Fenster, mein Prinz. Es ist zu gefährlich.« Sie sprach liebevoll, aber nüchtern. Der einzige Tonfall, den er jetzt ertragen konnte.
Henning kehrte dem schmalen Fenster den Rücken, trat zu ihr und setzte sich neben sie aufs Bett.
»Wenigstens sind unsere Männer Euch treu und öffnen dem König nicht die Tore«, bemerkte Volkmar. »Anders als Wichmann Billung. Nur deswegen hat Prinz Thankmar ins Gras gebissen, wenn Ihr mich fragt, weil er sich ausgerechnet diesen eingebildeten Wichser zum Verbündeten … vergebt mir, Prinzessin.« Er biss sich auf die Unterlippe und errötete. Er war es nicht gewöhnt, dass eine Frau bei einer Lagebesprechung zugegen war. Niemand war das gewöhnt.
»Schon gut«, erwiderte Judith und winkte ab. Es war eine graziöse, aber ungezierte Geste.
»Aber wie lange werden die Männer mir noch treu sein?«, wandte Henning ein. »Wenn sie erst einmal hungern …« Er brach ab.
»Sie hungern seit einem Monat, Prinz«, eröffnete Wiprecht ihm unverblümt. »Die Einzigen, die hier noch genug zu essen bekommen, seid Ihr und die Prinzessin.«
Das ist ja wohl auch angemessen, dachte Henning gereizt. Er war verletzt . Die Wunde am Unterarm, die einer von Ottos verfluchten Panzerreitern ihm bei Birten mit der Lanze beigebracht hatte, war auf den ersten Blick nicht so tragisch gewesen. Sie hatte stark geblutet und höllisch geschmerzt, war dann aber anstandslos verheilt. Nur konnte er immer noch nicht richtig zupacken, und allmählich beschlich ihn der düstere Verdacht, dass er mit der Hand nie wieder ein Schwert führen würde. Ganz gewiss nicht, wenn er nur noch halbe Rationen bekam. Und Judith war endlich, endlich schwanger. Der Zeitpunkt hätte kaum ungünstiger sein können, aber trotzdem musste auch sie essen, um ihm einen gesunden Erben zu schenken. Davon einmal abgesehen,
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