Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
seelenruhig weiter.
Henning ballte die Linke zur Faust und bohrte die Nägel in die Handfläche. Das half ihm, die Beherrschung nicht zu verlieren. Die Ausweglosigkeit seiner Lage drohte ihn kopflos zu machen. Die Erkenntnis, dass er früher oder später die Tore öffnen und sich Otto ergeben musste, bereitete ihm Übelkeit und machte ihn so wütend, dass er irgendetwas in Stücke schlagen wollte – oder vorzugsweise irgendjemanden.
Aber nicht Judith.
Als sie verheiratet worden waren, wäre er im Traum nicht darauf gekommen, sie anders zu behandeln als die Huren und Sklavenmädchen, mit denen er sich normalerweise vergnügte. Aber in ihrer Hochzeitsnacht war er zu besoffen gewesen, um ihr zu zeigen, wer fortan ihr Herr und Meister war. Judith hatte ihn ob dieser Peinlichkeit weder belächelt noch bemitleidet. Stattdessen hatte sie ihm am nächsten Morgen ein kühles Tuch auf die hämmernde Stirn gelegt und geflüstert: »Schließ die Augen, mein wunderschöner Prinz. Du brauchst dich gar nicht zu rühren. Lass mich nur machen.« Und damit war sie auf ihn geglitten.
Zuerst hatte er sich verdattert gefragt, wieso es ihn nicht wütend machte, dass sie das Ruder übernahm. Für gewöhnlich verabscheute er kokette und vorlaute Frauen. Dann war ihm aufgegangen, dass Judith weder das eine noch das andere, sondern rettungslos in ihn verliebt war. Diese Erkenntnis hatte ihn zuerst erschreckt und dann betört.
Liebe war etwas, womit Henning nicht viel Erfahrung hatte. Sein Vater hatte kein Interesse an ihm gehabt. Seine Brüder waren nie anders als schroff und kurz angebunden zu ihm gewesen und hatten ihn ausgeschlossen. Graf Siegfried, sein Erzieher, war ein pflichterfüllter und strenger Zuchtmeister gewesen und hatte ihn insgeheim verachtet, argwöhnte Henning. Seine Mutter hingegen hatte ihn mit ihrer Liebe geradezu erstickt, aber ihre gluckenhafte Zuwendung war ihm immer suspekt gewesen. Irgendetwas stimmte nicht damit.
Mit Judith war alles anders. So unglaublich es auch erscheinen mochte, aber seine Frau liebte ihn genau so, wie er war. Ohne Fallstricke. Ohne Bedingungen. Obwohl sie eifersüchtig war, wenn er sich andere Frauen nahm, duldete sie seine Eskapaden und hatte sogar manches Mal diskret die Wogen geglättet, wenn ein erboster Ehemann oder Vater Vorwürfe erhob. Sie war seine Spionin am Hof seines Bruders und im Stift seiner Mutter, seine Verbündete und Komplizin. Und auch wenn er sich eher die Kehle durchgeschnitten hätte, als das zuzugeben: Sie war sein bester Ratgeber.
Darum ärgerte es ihn, dass er ihr den Mund verboten hatte. Mit einer knappen Geste forderte er sie auf: »Also meinetwegen. Raus damit.«
Sie schaute kurz auf, ehe sie den Blick wieder auf die Nadel richtete und den nächsten Stich setzte. »Was ist es, das du erreichen willst?«, erkundigte sie sich.
»Das weißt du doch«, gab er achselzuckend zurück. »Ich will die Krone. Sie steht mir zu, in dem Punkt hatte meine Mutter immer recht.«
»Hm«, machte sie. »Aber bei aller Unterstützung, die deine Mutter dir angedeihen lässt, sie kann dir die Krone nicht geben. Das kann niemand. Du musst sie dir nehmen, Henning. Du hast nicht nur das Recht, du hast auch das Zeug dazu, das weißt du selbst ganz genau. Also behalte das große Ziel im Auge und fass dich in Geduld.«
»Was heißt das?«
»Es heißt, du musst deinem Bruder die Tore öffnen und ihm sagen, du könntest es nicht mit deinem Gewissen vereinbaren, dass deine Männer aus Treue zu dir hungers sterben. Sorge dafür, dass alle es hören, und deine Männer werden dir zu Füßen liegen und sich in Windeseile wieder um dein Banner scharen, sobald Otto den Rücken kehrt.«
»Das wird mir wenig nützen, wenn ich in Festungshaft sitze. Oder meinen Kopf verliere.«
Judith lachte auf. »Kennst du deinen Bruder wirklich so schlecht? Er wird dir kein Haar krümmen. Er kann einfach nicht.«
»Wieso nicht?«, fragte er neugierig.
Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Weil er schwach ist. Jedenfalls in der Hinsicht. Es gibt Dinge, die zu tun er selbst dann nicht imstande ist, wenn es um seine Krone geht. In diesem Punkt bist du ihm überlegen. Und das müssen wir uns zunutze machen.«
»Ja, aber wie?«
Sie sagte es ihm.
Otto saß im Schatten seines Zelts am Ufer der Saale und beobachtete eine Libelle, die über die Wasseroberfläche flirrte. Sie flog vielleicht zwanzig Schritte nach rechts, machte kehrt, kam an ihm vorbei und flog weiter zwanzig Schritte nach links, ehe sie
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