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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Großmutter, die beiden teilten ein Schicksal ... Warum hatte ich sie nicht gleich erkannt? Aber wie hätte ich das tun können, wo sie doch so alt war, so alt ...
    Und dann traf mich die Erkenntnis wie ein schweres Gewicht und zwang mich in die Knie. Ich begann zu lachen, während gleichzeitig Tränen über mein Gesicht liefen. Sie lebte! Sie war nicht geopfert worden! Es musste mir also gelungen sein, sie zu retten! Was auch immer ich getan hatte, es war erfolgreich gewesen!
    Ich kämpfte die Tränen zurück und zwang mich auf die Beine. A lles in mir schrie danach, ins Haus zurückzukehren und dem Spuk ein Ende zu bereiten. Jetzt, augenblicklich. Ich holte tief Luft und wartete darauf, dass das Hämmern meines Herzschlags sich wieder normalisierte.
    »Êdorian, du machst einen Fehler«, hörte ich den Roshi sagen. Er saß auf der Hafenmauer und ließ die Beine baumeln. »Einen entscheidenden Fehler. Die Vergangenheit steht fest, die kannst du nicht verändern. Du änderst nur die Gegenwart.«
    »Was heißt das?«
    Er zupfte an seinem Kimono und sprang von der Mauer. »Wenn du in dieses heimgesuchte Haus gehst, dann siehst du die Vergangenheit. Irgendeine Vergangenheit. Sie muss nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Das ist kompliziert, warte.« Er beugte sich vor und zog sich verästelnde Linien in den Staub. »Wenn du das Mädchen vor seinem Schicksal bewahrst, das ihm vorbestimmt ist, dann veränderst du die Geschichte. Das funktioniert aber nicht, weil man die Geschichte nicht verändern kann , sie steht ja bereits fest. Deshalb geht das Universum einen Schritt beiseite und lässt dich ins Leere laufen. Du glaubst, du hättest etwas verändert, aber in Wirklichkeit bist du nur ins Universum nebenan eingetreten. Dort ist das Mädchen immer schon am Leben geblieben.«
    Er klopfte seine Hände ab. Seine schwarzen Augen funkelten. »Das ist Physik«, sagte er. »Ich liebe Physik. Sie ist so praktisch.«
    Ich starrte auf die Linien im Staub. »Dann gibt es ein Universum, in dem ich gesund bin und nicht sterben muss?«
    Er schwieg. Seufzte dann und wiegte den Kopf. »Denk nicht darüber nach, Êdorian«, sagte er sanft. »Du fängst an, dir Hoffnung zu machen, und dann ist die Enttäuschung umso größer. D er Schmerz umso stärker. Das Leben ist, wie es ist. Wir alle gehen früher oder später wieder dorthin zurück, woher wir gekommen sind. Wir alle sind nur Teilchen, die sich kurzfristig materialisieren und dieses Stadium ungeheuer wichtig nehmen. All dies ist nichts, wenn man auf das große Ganze blickt. Auf alles.«
    »Ich möchte nicht sterben, Roshi.«
    Das hatte ich noch nie laut gesagt. Es tat weh wie ein Schnitt mit einem scharfen Messer, es laut auszusprechen. Damit wurde der Gedanke zu einer Wahrheit, und diese Wahrheit machte mich schwach und wehrlos. Ich hätte am liebsten geweint, aber ich zwang mich, meine Lippen zu schließen und die Augen auf die Wellen des Atlantiks zu richten. Auf und ab. Dunkles, tiefes Wasser, ruhig wogend wie der atmende Rücken eines riesigen Tieres. Der Anblick besänftigte den Schmerz.
    »Niemand will sterben, aber alle werden es tun.« Der Roshi berührte meinen Handrücken mit dem Zeigefinger. »Sei nicht verzagt, Êdorian. Du bist nicht allein. Und jetzt wäre es besser, wenn du schnell von hier verschwindest, dort hinten naht Unheil.«
    Mit diesen Worten war er verschwunden. Ich sah mich um, aber außer dem kalten Mondlicht auf dem Wasser sah ich nichts, was bedrohlich oder unheilvoll gewirkt hätte. Mondlicht? Vollmond? Ich hätte schwören können, dass gestern Nacht nur eine schmale Sichel am Himmel zu sehen gewesen war. So konnte man sich irren.
    November in der Vergangenheit und jetzt, unser beider Schicksal und der Vortrag des Roshis über Physik – mir schwirrte der K opf. Ich wusste nur, dass ich, egal was der Roshi sagte, zum Haus musste, und zwar so schnell wie möglich.
    Ich lief den steilen Fußpfad zur Straße empor. Das kalte Mondlicht beleuchtete meinen Weg. Es war so hell, dass ich jede Unebenheit, jeden Stein und jedes Grasbüschel in einer scharf umrissenen Detailansicht erkennen konnte. Dann war ich oben und wandte mich noch einmal kurz um, blickte auf das finstere Hafengelände und das glitzernde, schwarze Meer.
    Als eine Hand meinen Arm packte, machte ich einen Satz. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich nicht allein war.
    »Der kleine Scheißer aus dem Kutscherhaus«, sagte eine unangenehme Stimme. »Sieh an, dass du dich noch alleine vor die Tür

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