Das Haus am Abgrund
Punchingball nach einem intensiven Sparring, aber mit der alten Frau an meiner Seite ging es mir gleich etwas besser.
Sie lotste mich ins Wohnzimmer und schob mich auf das Sofa. »Streck dich aus. Was ist passiert?«
Ich berichtete stockend. Mein Kopf steckte in einer sich stetig zuziehenden Schraubzwinge. Ich kannte das Gefühl. »Ich werde gleich nicht mehr ansprechbar sein«, sagte ich hastig. »Nicht erschrecken, bitte. Jonathan soll meine Medikamente mitbringen.«
Ihre Antwort versank mit mir im wattigen Nebel.
Novembers Tagebuch
St. Irais, 18. Oktober
I ch bin so traurig und gleichzeitig so glücklich. Ich konnte dir so lange nicht schreiben, liebes Tagebuch, weil das die schlimme, dunkle Zeit war, wo Mama gegangen ist und uns allein gelassen hat. Papa hat sich in sein Zimmer eingeschlossen und ist tagelang nicht herausgekommen, und Jules hat uns geholfen, all die Formalitäten und den Papierkram zu erledigen und die Beerdigung zu organisieren ... ich war wie im Nebel, habe kaum etwas bewusst mitbekommen.
In zwei Wochen ist es so weit. Der Tag, vor dem ich zittere, seit ich denken kann. Gestern lag das Paket vor der Tür, das Paket mit meinem Namen darauf.
Sam hat es gefunden und ich habe ihren Schrei noch zwei Etagen weiter oben gehört.
M eine Brautausstattung. Ein wunderschönes, weißes Seidenkleid mit langer Schleppe, mit Perlen und silbernem Garn bestickt und einem Schleier aus Brüsseler Spitze. So schön, so kostbar, dass jede Braut vor Freude in Ohnmacht gefallen wäre.
Auch die Schatulle mit dem Schmuck – Diamanten, stell dir das vor! – und der zarte Kranz, die Handschuhe, die Seidenschuhe. Der Wert dieser Ausstattung muss ungeheuer sein.
Mir graut es davor, all das anzuziehen, den Schmuck anzulegen, mich schön frisieren zu lassen ... mir graut davor wie vor einem Totenkleid!
Sam hat sich in ihr Zimmer eingeschlossen. Vorher hat sie neben mir gestanden, stumm auf die Pracht geschaut, die auf Mamas Bett ausgebreitet lag ... wie schrecklich passend, Kleider für eine Tote auf dem Bett einer Toten!
Sie hat sich abgewendet und mich mit wütenden Tränen angefleht, zu gehen, uns zu verlassen, niemals wieder zurückzukehren. Lieber wolle sie mich nie im Leben wiedersehen, als zusehen zu müssen, wie ich diese Kleider und den Schmuck anlege und hinunter in den Keller gehe.
Ich habe sie in den Arm nehmen wollen, aber sie hat sich losgerissen und ist in ihr Zimmer gestürmt.
Wie schrecklich und traurig das alles war ... bis Adrian kam. Oh, er kam zu mir! Er kam und er wird auch in zwei Wochen kommen und mir beistehen. Mein Herz ist schwer und leicht zugleich.
32
NOVEMBER
Es tat ihr leid, dass sie Adrian so eiskalt hatte stehen lassen. Er konnte doch nichts dazu, dass ihr vor Angst die Knie schlotterten und ihre Hände vor Kälte starr waren. Sie rettete sich ins Museum, schloss die Tür vor seinem fragenden, enttäuschten Gesicht und lehnte sich so schwer atmend dagegen, als wäre sie den ganzen Weg vom Herrenhaus hierher gerannt.
»Nova? Bist du das?« Ihre Tante klang müde. In ihrem kleinen Büro polterte etwas zu Boden und Tante Eliette schimpfte unterdrückt.
»Ich bin es.« November seufzte und hängte ihre Jacke an den Haken. »Soll ich uns etwas zu essen machen, Tante Eliette?«
»Würdest du das tun?« Die Freude und Erleichterung, die in diesen Worten mitklangen, ließen etwas von dem Schrecken verblassen, der November wie eine dunkle, kalte Wolke gefolgt war.
Sie ging ins Büro und küsste Eliette auf die Wange, legte ihre Arme um den Nacken ihrer Tante und das Kinn auf ihren Kopf. So stand sie eine Weile und sah zu, wie Eliette Briefe in Umschläge steckte. Einladungen zu der alljährlichen Museumsfeier im Juni.
» War es nett bei deiner Großmutter?«
»Ja«, erwiderte November geistesabwesend. »Ja, sehr nett. Was möchtest du essen?«
»Wir haben Salat im Kühlschrank und noch ein paar Kartoffeln von vorgestern. Was hältst du von Spiegeleiern und Bratkartoffeln?«
November nickte und ging zur Tür. Sie spürte den Blick ihrer Tante.
»Geht es dir gut?«, fragte Eliette.
»Prima, alles in Ordnung«, erwiderte November und verließ eilig das Büro, ehe ihre Tante anfangen konnte zu bohren.
Die Arbeit in der Küche beruhigte ihre zappelnden Nerven. Sie schälte Zwiebeln, schnitt die Kartoffeln klein, wusch den Salat, und mit jedem Handgriff rückte das Haus etwas weiter weg, wurden die Eindrücke blasser, der ausgestandene Schreck weniger scharfkantig und
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