Das Haus am Abgrund
worden.
»Das ist sie doch sowieso«, flüsterte Jeannie. Sie stand neben mir, frierend. Ihre Haare waren erdbeerrot und stachelig nach oben gegelt. Sie trug eine schreiend gelbe Latzhose und grüne Gummistiefel mit Margeritenmuster. Mir taten die Augen weh, wenn ich sie ansah.
»Was meinst du?«
» Sie ist doch längst tot«, sagte Jeannie und schlang die Arme um sich. »Meine Güte, wo sind wir hier, Alaska?«
Natürlich hatte sie recht. Das hier war nicht meine Zeit, wahrscheinlich war es noch nicht mal meine Welt.
November schubste mich. »Geh weiter, Adrian. Schläfst du?« Ich bat sie mit einer Handbewegung um Geduld, während ich Jeannie ansah. »Ich weiß nicht, was geschieht, wenn ich jetzt nach Hause gehe. Ich muss da wieder rein, Jeannie. Das ist wahrscheinlich meine letzte Chance, sie zu retten.«
»Ary«, sagte November verzweifelt, »du willst zurückgehen?«
Ich nickte und biss die Zähne aufeinander. »Wir gehen beide wieder hinein, und wir werden versuchen, uns nicht wieder zu verlieren. Du hängst in der Geschichte mit drin, Nova. Du hast selbst gesagt, dass das Haus dich nicht loslässt. Wann wirst du sechzehn? In diesem Jahr?«
Sie wurde blass. »Ich kann nicht«, sagte sie tonlos. »Adrian, wenn du mich wirklich gernhast, dann bring mich von hier weg.« Sie schwankte und ich griff hastig nach ihrem Arm. Es blieb mir keine Wahl.
Wir überschritten die Schattengrenze, und November seufzte, als würde eine Last von ihren Schultern genommen. Sie stützte sich nicht mehr ganz so schwer auf mich und ihre Schritte gewannen an Festigkeit. »Es ist besser«, sagte sie, als wir die Mauer zum Kutscherhaus erreichten. »Danke. Du bist ein echter Freund.« Sie wandte mir ihr Gesicht zu und sah mich sehr ernsthaft mit ihren Mondscheinaugen an. Ich beugte mich vor und küsste sie. Dieses Mal erwiderte sie den Kuss, ohne zu zögern, und er schmeckte fast so süß wie der meiner November aus dem Haus .
31
Ich wollte November nicht alleine nach Hause gehen lassen. Was auch immer ihr im Haus zugestoßen war, hatte sie zu sehr durcheinandergebracht. Sie protestierte zwar halbherzig, als ich ihr meine Begleitung anbot, aber ich konnte sehen, dass sie froh darüber war, nicht alleine gehen zu müssen.
Der Weg hinunter ins Dorf war mir inzwischen so vertraut wie mein alter Schulweg. Ich hakte November unter, und wir gingen ein Stück, ohne zu reden. Dann fragte ich sie, was ihr im Haus widerfahren war.
November verzog das Gesicht. »Ich wollte nicht hysterisch werden«, sagte sie ausweichend. »Es tut mir leid. Du warst plötzlich fort und ich war allein in dieser Ruine. Dann hat sich alles um mich herum verändert, ich war nicht mehr ich selbst, sondern eine andere November. Und da war ein Mann, ein fremder Mann, dunkel und schön. Er schien geradewegs aus den Mauern zu kommen, wie ein Gespenst – und darüber habe ich mich zu Tode erschreckt. Lass mich, ich kann jetzt nicht darüber reden.«
Wieder schwiegen wir. Ich beobachtete eine Fledermaus, die in wilden Schwüngen nahezu lautlos über unseren Köpfen nach Insekten jagte. Dann sagte ich: »Ich lande immer in der Vergan g enheit. Da ist eine Familie mit zwei Töchtern. Eine davon sieht aus wie du.« Ich wartete einen Moment, ob sie etwas dazu sagen wollte, und fügte dann hinzu: »Sie heißt November.«
Nova antwortete nicht. Sie wandte den Kopf ab und beschleunigte ihre Schritte. »Du musst mich nicht bis vor die Tür bringen«, sagte sie. »Hier im Dorf passiert mir nichts. Ich bin November Vandenbourgh.«
Wie sie ihren Namen sagte, mit einer kalten, klaren Stimme, ließ mich erschauern.
Sie konnte mich nicht davon abbringen, sie vor ihrer Haustür abzuliefern, aber bis wir am Museum waren, sprachen wir kein Wort mehr miteinander.
Vor der Tür wandte sie sich zu mir um, gab mir förmlich die Hand und bedankte sich für meine Begleitung. Die ewigen Schneefelder des Himalaja waren warm gegen ihre Worte.
»November«, sagte ich, »womit habe ich dich verletzt?«
Sie sah mich starr und kühl an. »Du hast mich nicht verletzt, Adrian«, sagte sie. »Noch mal danke. Schlaf schön.« Mit diesen Worten war sie verschwunden. Die Tür schlug hinter ihr ins Schloss und ich stand da und starrte das rissige Holz an wie ein Idiot.
»Dumm gelaufen«, sagte Jeannie und hakte mich unter. »Komm, Adrian, gehen wir nach Hause.«
Ich ließ mich mitziehen, obwohl ich am liebsten wie ein Hund den Mond angeheult hätte. »Was habe ich falsch gemacht?«
Sie
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