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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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blies ihren Kaugummi zu einer dünnen Blase auf und ließ ihn platzen. »Nichts«, sagte sie. »Das Mädchen ist zickig.«
    Das half mir nicht, aber ich verstand, dass sie mich trösten wollte. Ich nickte und holte tief Luft. »Gehen wir noch ein biss c hen. Ich mag jetzt nicht nach Hause.« Wo Jonathan auf mich wartete, dem ich noch eine Entschuldigung für mein Misstrauen schuldete. Er hatte mich vor Toby gedeckt und ich bedankte mich so. Ich hätte mich in den Hintern treten können.
    Jeannie ging neben mir her und ließ immer wieder eine Kaugummiblase platzen. Das Geräusch begann mir nach ein paar Minuten auf den Wecker zu gehen. »Danke für deine Begleitung«, sagte ich. »Aber ich wäre jetzt lieber allein.«
    Sie zuckte die Achseln und verblasste.
    Ich ging ziellos weiter. Dann fand ich mich vor dem Cottage der alten Ms Vandenbourgh wieder. Ich zögerte. Wie spät mochte es sein? Eines der kleinen Fenster war noch hell. Ich ging durch das Gartentor und hörte im Näherkommen leise Musik, ein Klavierkonzert. War es in Ordnung, jemanden abends zu stören, der friedlich Musik hörte?
    Auf mein Klopfen hin brach die Musik ab, dann hörte ich die unregelmäßigen Schritte der alten Frau. Sie öffnete lächelnd und nickte, als hätte sie gewusst, dass ich es war. »Komm herein«, sagte sie.
    Sie ging voraus und ich folgte ihr durch den schmalen Flur in das kleine Wohnzimmer. Sie schaltete den CD-Player aus und drehte sich zu mir um. »Ich dachte mir, dass du noch einmal zurückkommst.« Ihre Augen waren mondhell und klar. »Setz dich.«
    Ich ließ mich auf das Sofa sinken und seufzte. »Erzählen Sie mir, was in dem Haus geschehen ist.« Ich erwiderte ihren Blick, der nachdenklich und ein wenig traurig war. »Als Sie jung waren.«
    S ie schüttelte langsam den Kopf. »Adrian«, sagte sie und seufzte. »Adrian, du weißt, was geschehen ist. Du warst dort.«
    Mir wurde schwindelig. Ich legte den Kopf in die Hände. »Ich bin dort gewesen, gerade vor einer halben Stunde. November war bei mir. Etwas hat sie zu Tode erschreckt, und ich möchte wissen, was es war.«
    »Es ist nicht gut, dass sie das Haus betritt«, hörte ich sie sagen. »Sie sollte von hier fortgehen. Das Dorf ist kein guter Ort für sie. Aber sie hört nicht auf mich.« Sie lachte leise. »Ich kann es ihr nicht verdenken.«
    Ich zog das rote Tagebuch aus meiner Tasche und legte es auf den Tisch. Sie blickte darauf nieder und ihre Augen begannen zu schimmern. »Woher hast du das?« Sie wischte sich mit einer ungeduldigen Bewegung über die Augen und griff nach dem Tagebuch. Ich erwartete, dass sie es öffnen würde, aber sie hielt es nur fest umklammert, drückte es an sich wie einen verlorenen Schatz.
    »Milton Skegg hatte es«, sagte ich. »Er hat es mir geliehen, bevor ...« Ich schüttelte den Kopf. »Haben Sie gehört, was passiert ist?«
    Sie nickte und zuckte die Achseln. »Das Haus. Er hätte in Deckung bleiben sollen, der dumme Kerl.« Ihre Finger liebkosten das Büchlein. »Hast du es gelesen?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich wollte es tun, aber immer wenn ich es aufgeschlagen habe, ist etwas dazwischengekommen. Als wollte das Buch nicht, dass ich darin lese.«
    Ich sah sie mit meinem Malerblick an. Diese Augen kannte ich, ich hatte sie so oft zu malen versucht. Ich kannte das Gesicht und die honigdunkle Stimme. Sie war alt – so alt, wie ein M ensch im Laufe der Jahrzehnte werden konnte. Sie hatte es erlebt, dass Falten die Haut runzelten und das Haar weiß wurde, dass ihr Rücken nicht mehr gerade war, die Beine nicht mehr kräftig ... ich würde es nicht erfahren, wie es sich anfühlte, alt zu werden. November wusste es. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen.
    »Ich muss hier raus«, sagte ich. »Mir ist schlecht.«
    Ohne ihre Antwort abzuwarten, sprang ich auf und rannte zur Tür. Ich lief vor ihr weg. Ich konnte sie nicht länger ansehen, nicht ohne vor Trauer und Entsetzen beinahe zerrissen zu werden. Die Tür schlug hinter mir zu, ich hörte gedämpft noch ihre Stimme rufen: »Adrian!«, dann war ich auf dem Weg und lief, rannte, bis mir die Seiten stachen und feurige Räder vor meinen Augen tanzten, die Lunge brannte und meine Beine nur noch Pudding waren.
    Ich lehnte an der alten Hafenmauer und rang stöhnend nach Atem. Das Gesicht der alten Frau tanzte mit den Wellen des Meeres vor meinen Augen auf und ab. Wie konnte ich das nicht gesehen haben? Dabei war es so offensichtlich: Sie war eine Vandenbourgh, sie war Novembers

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