Das Haus am Abgrund
strich ihre Haare aus der Stirn, band sie im Nacken zu einem Zopf und lächelte. »Komm«, sagte sie, mir die Hände hinstreckend. »Wir gehen zur Klippe. Ich möchte den Mond sehen.«
Ich folgte ihr erneut durch den Keller, der mir noch düsterer und bedrückender erschien als bei meinem ersten Besuch. Wieder kletterten wir die eisernen Sprossen empor und durch das Gitter ins Freie. Wieder war es tiefe Nacht, kalte Sterne standen am tintenschwarzen Himmel, das Mondlicht malte eine silberne Straße auf die unruhigen Wellen. Es war kalt. Ich warf November an meiner Seite einen Blick zu. Sie sah aufs Meer und hielt ihre Jacke am Kinn eng zusammen. Dünne Strähnen ihres Haars peitschten im heftigen Wind. Sie sah blass und verloren aus.
Ich nahm sie wortlos in die Arme und versuchte, ihr Wärme zu geben. Ihr schmaler Körper schmiegte sich in meine Umarmung, als wäre das der Ort in der Welt, an den er gehörte. Wir standen da, hielten uns fest, und für einige Minuten drehte sich die Erde ohne uns weiter. Ich hielt November und atmete den Duft ein, den ihr Haar ausströmte. Ihre Berührung war mir so vertraut, als würden wir uns schon ein Leben lang kennen. Ich sagte es ihr ins Ohr und sie hob den Kopf und lächelte mich an. »Ein Leben lang«, flüsterte sie. »Ich kenne dich, seit ich denken kann, Adrian.«
Ich liebte sie für ihre Worte. Wir sahen dem Mond zu, wie er das Meer beleuchtete, und ich hätte noch die ganze Nacht so stehen können, mit November im Arm und einem Gefühl im Bauch, das warm und glücklich war.
Aber dann legte sich der Wind, und Wolken zogen auf, die das Mondlicht nach und nach verdunkelten. Schließlich, bevor wir k aum noch etwas sehen konnten, zog November mich zum Einstieg und wir nahmen den Rückweg durch die Kellergewölbe. »Zwei Wochen«, hörte ich sie flüstern.
Ich nahm ihren Arm und hielt sie fest. »November«, sagte ich, »was ist, wenn du dich einfach weigerst?«
Ihre Augen waren kleine, silberne Monde in der Dunkelheit. Ich wollte sie malen – oder küssen. Beides.
»Weigern? Ich kann mich nicht weigern«, erwiderte sie. »Das Wohl meiner Familie hängt an meiner Hochzeit. Meine Schwester, mein Vater.« Sie schüttelte den Kopf und ihr Mund verzerrte sich zu einem Schluchzen.
»Und wenn du zu deiner Großmutter ziehst?«, schlug ich vor. »Sie würde dich sicher beschützen.«
November zog die Brauen zusammen. »Meine Großmutter ist tot«, wies sie mich zurecht. »Sie ist bei einem der deutschen Bombardements auf London gestorben. Ich habe sie nie kennengelernt.«
Ich schwieg, bis wir wieder in der Halle standen. Das alles war so verwirrend und gleichzeitig so vertraut. Ich konnte zwei Adrians fühlen. Der eine hatte sich gerade mit einem Dorfjungen geprügelt und in seinem Zimmer ein Sandwich gegessen. Der andere – der andere war Novembers Adrian. Immer schon.
Ich bemerkte, dass sie mich ansah. Es war still im Haus, das Licht gedämpft. Anscheinend waren die anderen alle bereits zu Bett gegangen. Ich erwiderte ihren Blick mit einer fragenden Geste zur Treppe, die nach oben führte. Zu ihrem Zimmer.
»Nein«, sagte sie seufzend. »So gerne, ach so gerne ... aber nein, Adrian. Es wäre dumm, unvernünftig und gefährlich. Ich bin die Braut, mein Liebster.« Sie küsste mich, und ihre Lippen w aren kalt. »Geh nach Hause«, flüsterte sie. »Denk an mich. Und besuch mich noch einmal, ehe ich hinuntergeführt werde.« Sie streichelte meine Wange, dann wandte sie sich um und lief leichtfüßig und leise die Treppe hinauf. Das Licht erlosch.
*
Mir wurde schwindelig. Ich schloss für einen winzigen Moment die Augen und atmete tief durch. November löste ihre Finger aus meiner Hand. »Ary«, sagte sie. »Ary, lass uns gehen. Bitte!« Sie klang, als ob sie weinte. Ich riss die Augen auf und sah sie an.
»Oh«, sagte ich. »Aber du ... du bist es?«
Sie rieb sich mit dem Ärmel über die Augen. »Ich möchte nach Hause. Es war ein Fehler hierherzukommen. Das Haus hasst mich.«
Beinahe wäre ich ihrer Aufforderung gefolgt. Ich ging die Treppe hinunter und blieb auf dem Weg stehen. Es war kalt, der Mond ließ sein Eislicht über die schwarzen Mauern fließen. Eine Krähe flatterte auf und ließ sich wieder auf das Dach zurückfallen.
Ich sah an dem Haus empor. Die Zeit wurde knapp. Wenn ich jetzt nach Hause ging und morgen hierher zurückkehrte, dann waren im Haus womöglich schon mehrere Tage oder Wochen vergangen und November war längst in den Keller geführt
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