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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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mir Maman beigebracht hat), als mir beinahe das Herz stehen blieb.
    Es ist keine Zwiebel. Was vor mir liegt, grau und rosa, ist ein Gehirn. Es fühlt sich eklig an. Ich kann die Windungen sehen und die Stelle, an der es zu faulen beginnt, eine riesige, schwarze, stinkende Stelle am rechten Schläfenlappen. Sie sondert grünliches Sekret ab, das zäh auf das Schneidbrett tropft. Wie eine schimmlige Traube hängt ein Auge an seinem Nerv herunter. Es liegt auf der Arbeitsplatte und sieht mich an. Hellbraun wie Karamell, ein dunklerer Rand um die Iris – ich kenne dieses Auge, weil es mich oft genug aus dem Spiegel ansieht. Ich würge. Das M esser zittert in meiner Hand. Ich lasse es auf das faulende, stinkende Gehirn hinuntersausen, schneide das flehende Auge ab und beginne damit, es in kleine, matschige Stückchen zu zerhacken, aus denen Blut und Wasser, stinkender Eiter und Tränen spritzen. Ich höre mich vor Ekel stöhnen.
    Eine große Hand umfasst mein Handgelenk und entwindet mir behutsam das Messer. »Ganz ruhig«, höre ich Jonathans tiefe Stimme. »Ganz ruhig, mein Junge. Tief atmen. Ist dir übel? Setz dich.« Ich habe immer noch diesen Tunnelblick, der mir wie eine Makrolinse das grässliche, blutende, eiternde, faulende Ding auf dem Schneidbrett zeigt. Während ich es anstarre, weil ich nicht mehr weiß, wie man die Augen schließt oder den Blick abwendet, mutiert es zu einem abgetrennten Kopf mit grünem Haar und teuflischem Grinsen. Der geköpfte Joker fixiert mich mit seinen glühenden Augen, öffnet den Mund und sagt: »Na, Heulsuse? Immer wieder nett, dich zu sehen.«
    Jonathan hielt mich fest, während ich mich auf seine Füße übergab. Auf dem Herd begann es nach verbrannten Spiegeleiern zu riechen.

2
    »Du steckst voller Selbstmitleid«, sagte der Roshi. Er hockte auf der Kante meines Bettes und baumelte mit den Füßen wie ein kleines Kind. »Es ist zutiefst würdelos, sich selbst zu bemitleiden.«
    Ich drehte den Kopf weg und zog die Decke über mein Gesicht. An solchen Tagen ging mir der alte Mann wirklich auf die Nerven. Ich wollte mich nicht mit ihm unterhalten und ich wollte mir auch seine Predigt nicht anhören. »Geh weg, du bist eine Halluzination«, murmelte ich.
    »Es ändert sich nichts, wenn du heulst und mit den Zähnen knirschst«, fuhr er unbarmherzig fort. »Die Sonne geht auf und unter, die Erde dreht sich – zumindest tut sie das, seit meine Tante sie von ihrem Rücken abgeworfen hat –, und nun taumelt sie durch das All und könnte auch heulen und mit den Zähnen knirschen über ihr böses Schicksal. Aber tut sie das? Hörst du sie jammern oder sich beklagen?«
    »Roshi. Geh. Weg.«
    Der alte Japaner schwieg, aber ich konnte ihn atmen hören und das Geräusch seiner Füße, die gegen das Bett tappten. »Würdelos«, grummelte er nach einer Weile.
    » Nun lass ihn doch in Frieden«, mischte sich eine sanfte Stimme ein. Ich fühlte, wie eine Hand über meinen Kopf streichelte. »Der Junge hat eine schwere Zeit hinter sich. Er schlägt sich doch wacker.«
    »Wenn der Genius spricht, schweigt der alte Lehrer«, sagte der Roshi eingeschnappt. Das Tappen seiner Füße hörte auf.
    Ich schob den Zipfel der Bettdecke von meinem Gesicht. »Danke.«
    »Keine Ursache.« Sie zupfte an ihren Locken, die heute hellgrün wie Birkenlaub im Frühling waren, und tippte mir gegen die Nase. »Aber er hat recht, ich wollte das nur nicht in seinem Beisein sagen, damit er nicht noch eingebildeter wird. Komm, steh auf, Adrian. Du wolltest das Krähenauge fertig malen.«
    Ich jammerte. Sie zog an meiner Decke, lachte, weil ich sie festhielt, und ließ los. »Na warte«, sagte sie vergnügt.
    Ich bekomme den Moment nie mit, wenn Jeannie das macht. Also ... das . Es ist, als würde jemand meine Augen nehmen, sie herumdrehen und wieder einsetzen. Ich blinzelte, und Gino packte mich kurzerhand, hob mich hoch und setzte mich vor meine Staffelei. »Los«, knurrte er. »Malen!«
    Schafft euch nie einen Genius an. Die sind entsetzlich hartnäckig. Gino ist die ganz besonders sture Sorte, glaube ich. Er ist zwei Meter zwanzig groß, muskelbepackt wie ein Schwergewichtsboxer und blauhäutig. Hübsch geht anders, aber das würde man kaum wagen, ihm ins Gesicht zu sagen.
    Ich ließ mir von ihm den Pinsel in die Finger drücken, dann trat er zurück und verschwand.
    Das beinahe fertige Krähenauge starrte mich von der Lein w and an. Ich hatte den Ausdruck der Makroaufnahme an die Staffelei geklemmt, aber ich

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