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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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schwarzen Tür mit dem Messingklopfer. Ich fühlte mein Herz schlagen, als ich mich der Treppe näherte und sie hinaufstieg. Die Stufen waren ausgetreten, die Kanten abgesplittert und brüchig. Das Haus war alt. Uralt. Und ich konnte fühlen, dass es keine Besucher duldete. Ich stolperte über eine unebene Stufe und fiel auf die Türschwelle, stieß mir das Knie an und biss mir so heftig auf die Lippe, dass sie zu bluten begann. Ein Tropfen fiel auf die Schwelle und zerplatzte.
    »Blutopfer«, flüsterte der Joker. »Wie aufmerkssssssam von dir.« Er schmatzte und kicherte. Ich drehte mich unwillkürlich noch in der Hocke um, rieb mein schmerzendes Knie, wollte ihn anfahren – aber da war nichts hinter mir, nur der dunkle, stille Garten, in dem sich die schwarzen Silhouetten der Bäume vor einem tiefblauen Himmel wiegten, an dem die ersten Sterne blitzten.
    I ch schauderte. Der Wind war so kalt, als käme er direkt vom Nordpol. Ich sollte zurückgehen. Jonathan hatte heute zum letzten Mal für uns alle gekocht, ab morgen sollte die neue Haushälterin kommen. Das Bild unserer warmen, hell erleuchteten, freundlichen Küche tanzte vor meinen Augen.
    Die Tür, vor der ich stand, sprang mit einem leisen Knacken auf und ein modriger Luftzug strich seufzend an mir vorbei. Ich zuckte zusammen. Grabgeruch.
    Der Roshi wisperte: »Lauf, Êdorian. Lauf!«, aber ich ignorierte seine Stimme. Bei allem Erschrecken war ich viel zu neugierig. Wieso war die Tür aufgegangen? Und was war dahinter? Ich machte einen Schritt und noch einen, dann lag meine Hand auf dem Knauf. Beinahe von selbst schwang die Tür auf, lautlos. Wieso hatte ich ein grässliches Knarren und Seufzen erwartet? Das hier war nicht das Schloss des Schreckens, nicht das Hill House und ganz sicher nicht das Overlook-Hotel – das hier war bloß unser verdammtes Nachbarhaus.
    Ich drückte die Tür ganz auf und trat ein. Meine Schritte hallten auf dem Steinboden, als hätte ich feste Schuhe an und keine Sneaker. Als ich stehen blieb, hörte das Geräusch nicht sofort auf. Klack-klack-klack-klack hörte ich die Schritte wie ein seltsames Echo weiterlaufen. Dann war es still. Ich konnte meinen eigenen Atem hören und schmeckte Blut auf meiner Lippe, sie tat höllisch weh.
    Ich stand in einer weitläufigen Halle, über meinem Kopf war nur Dunkelheit. Ich konnte nicht sehen, ob da irgendwo eine Decke war, aber ein unbestimmtes Gefühl sagte mir, dass der Raum so hoch war wie eine Kirche. Ich wollte »Hallo« rufen, als hinter mir die Tür ins Schloss fiel. Der dumpfe Knall grollte d urch die Eingangshalle und verlor sich in der Dunkelheit. Ich hörte hoch über meinem Kopf Vögel aufflattern. Das klatschende Geräusch der Flügel zitterte durch die Luft und verstummte wieder. In der Ferne lachte jemand.
    Mein Herz hatte einen Schlag ausgesetzt und beeilte sich jetzt, den verpassten Beat wieder aufzuholen. Ich holte tief Luft und klemmte meine Hände in die Achselhöhlen. Das hier war nur ein unbewohntes Haus. Kein Grund, das große Zittern zu kriegen.
    Aber ohne Taschenlampe wollte ich auch keinen weiteren Schritt in die Finsternis machen. Wenn hier Schutt herumlag, würde ich mir nur die Knochen brechen, und am Ende würde mich niemand finden, weil hier auch niemand nach mir suchen würde.
    Also trat ich den Rückzug an. Nein, ich hatte keine Angst. Es war eine reine Vernunftentscheidung. Außerdem wollte ich nicht zu spät zum Abendessen kommen ...
    Meine Schritte klackten wie Kastagnetten. Ich blieb stehen, das Geräusch lief weiter. Und dieses Mal verstummte es nicht, sondern das gleichmäßige Klack-Klack der Absätze klapperte stetig vorwärts. Da kam jemand! Ich stand in einem fremden Haus, und einer der Bewohner kam auf mich zu!
    »Äh.« Ich räusperte mich. »Hallo? Ist da jemand? Ich bin – die Tür – ich komme von nebenan ...« Ich hörte auf, dummes Zeug zu faseln, und lauschte. Die Schritte hatten angehalten.
    »Hallo?«, fragte ich. Meine Stimme war nicht ganz so fest, wie ich gewünscht hätte.
    Niemand antwortete. Ich glaubte, leises Atmen zu hören, aber das konnte auch der Wind sein, der durch ein Loch im Mauerwerk strich. Es blieb still. Wahrscheinlich war das Geräusch nur ein seltsames Echo gewesen.
    M eine Augen begannen sich an das Dunkel zu gewöhnen. Der Boden unter meinen Füßen war früher einmal schwarz-weiß gemustert gewesen, jetzt aber nur noch eine holprige Ansammlung von Löchern, zerstörten Fliesen und herumliegenden Steinen. Der

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