Das Haus am Abgrund
Raum, in dem ich stand, hatte die Ausmaße eines Kirchenschiffs. Ich legte den Kopf in den Nacken und kniff die Augen zusammen. Ich hatte freie Sicht bis unter das Dach. Ganz in der Ferne konnte ich einen Lichtschimmer erahnen. Das Haus war vollkommen entkernt – eine ausgehöhlte Fassade, in der sich nichts befand außer Schutt, Mäusen und Vogelkot.
Wie konnte das sein? Das Haus war von außen zwar heruntergekommen, ansonsten jedoch intakt erschienen. Aber was ich jetzt von hier drinnen erkennen konnte, war eine abgebrannte Ruine, von der gerade noch die Außenmauern standen. Ich konnte das Sternenlicht sehen, das durch die Löcher im Dach hereinfiel.
Ich stolperte durch den Schutt zurück zur Tür. Fragte mich, ob das alles gerade auch schon da gewesen war – ich war doch ganz ungehindert über glatten Steinboden gegangen? Meine Hand fasste nach dem Türknauf.
Das Licht ging an. »Hallo?«, sagte eine Mädchenstimme. Einen Moment lang blieb die Zeit stehen, jedenfalls fühlte es sich so an. Ich drehte mich um und stand in einer prächtigen Vorhalle. Schwarz-weiße Bodenfliesen, Kerzenleuchter an den Wänden, eine geschwungene Treppe ins Obergeschoss, weiße Türen, die ins Innere des Hauses führten. Ein roter Läufer. Bodenvasen mit getrockneten Sträußen darin. Spiegel und Bilder an den Wänden. Eine Decke mit Stuckverzierungen über meinem Kopf. Ein Kronleuchter, der warmes Licht über alles warf. Ich blinzelte mehrmals heftig.
» Hallo?«, wiederholte die Stimme. Ich suchte ihren Ursprung und fand ihn auf der Treppe. Über das Geländer aus rötlichem, glänzend poliertem Holz beugte sich ein Mädchen, das mich mit fragender, ein wenig besorgter Miene ansah. Mein Herz machte einen Hüpfer.
»November«, sagte ich. »Du wohnst also doch hier!«
Sie runzelte die Stirn und richtete sich auf. »Ja, natürlich«, gab sie zurück. Es klang ein bisschen schnippisch. Sie kam die Treppe herunter. Ihre nebelgrauen Augen musterten mich intensiv. Dann löste sich das Stirnrunzeln in ein Lächeln und sie reichte mir die Hand. »Du bist es«, sagte sie. »Ich habe dich zuerst nicht erkannt. Wie nett, dass du mich einmal besuchen kommst.«
Ich nahm ihre Hand, sie lag kühl und leicht in meiner, schmal und zart wie ein kleiner, atmender Vogel. Ich wagte kaum, sie zu drücken, und ließ sie nur ungern wieder los. Ihr Blick, der sogar dann noch traurig war, wenn sie wie jetzt lächelte, blieb auf mein Gesicht gerichtet. »Wie nett«, wiederholte sie. »Wir bekommen so selten Besuch.«
Ich räusperte mich mehrmals, weil meine Stimme sich anscheinend unter einen Stein verkrochen hatte und sich weigerte, wieder herauszukommen. »Du siehst toll aus.« Blöde Bemerkung, Adrian. Ganz, ganz blöde Bemerkung. Auch wenn es der Wahrheit entsprach. November trug ein altmodisches, langes Kleid, das aussah wie aus einem Film – es passte unglaublich gut zu ihr und dem Haus, der lackierten Treppe, dem Kronleuchter und den Bildern an den Wänden. So stellte man sich jemanden vor, der in so einem herrschaftlichen Haus lebte. Ganz genau so. Statt mich noch einmal zu räuspern, sagte ich das alles auch noch laut. Meine Stimme war wieder da. Oh wie peinlich.
S ie wurde tatsächlich ein bisschen rot. Lächelte aber. Also hatte ich nicht alles falsch gemacht. Entwarnung. Ich lächelte einfach mal zurück.
»Komm, ich stelle dich meinen Eltern vor«, sagte sie jetzt und deutete auf eine Tür hinter mir. Ich drehte mich um. Das Licht ging aus.
»Oh«, sagte sie. »Schon wieder. Das ist aber wirklich langsam zu ärgerlich. Diese Stromausfälle ... warte. Bleib einfach stehen, ich rufe eben nach Bernard ...« Ihre Stimme entfernte sich von mir. Ich hörte ihre leichten Schritte die Halle durchqueren, dann ging eine Tür auf und wieder zu.
Ich stand in der Dunkelheit, in der es wisperte und atmete. Ich konnte das Haus um mich herum spüren. Es war wie ein lebendes Wesen, das seine Bewohner voller Sorge in seine Mauern einschloss und eifersüchtig darüber wachte, dass ihnen nichts zustieß. Ich war fremd, ein Eindringling. Das Haus wollte nicht, dass ich hier war.
Ich musste lachen. Das war so ein dummes Zeug. Ich hatte die Broschüre über das Haus gelesen und mir das Geschwätz des Bestattungsunternehmers angehört, und das ging mir jetzt im Kopf herum. Dies hier war ein ganz gewöhnliches, wenn auch wirklich vornehmes Haus, in dem ganz gewöhnliche – wenn auch wahrscheinlich vornehme – Menschen wohnten.
Eine Hand berührte
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