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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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holte sie tief Luft, befeuchtete ihre Lippen mit einem Schluck Tee und begann zu erzählen.

26
    »Die Geschichte unserer Familie und des Hauses, in dem wir seit unzähligen Generationen leben, sind untrennbar miteinander verbunden«, begann die alte Ms Vandenbourgh ihre Erzählung. Ihre Stimme klang so nüchtern wie die einer Nachrichtensprecherin, ihr Gesicht war unbewegt, aber ich konnte ihre Hände sehen, die unruhig wie kleine Katzen auf der Armlehne ihres Sessels herumwanderten. »Unser Ahnherr erbaute das Haus gegen den Rat der Menschen, die im Dorf lebten, auf einem Platz, der den Dorfbewohnern als unheilig galt. Als verflucht.«
    Ich schloss die Augen, während ich ihrer Stimme lauschte. Der sanfte, dunkle Klang ihrer Worte lullte mich ein und wiegte mich wie das gleichmäßige Rauschen der Wellen, die an die Klippe schlugen, sich zurückzogen, erneut heranbrandeten ... Ich sah, wie ein Mann, der aussah, als wäre er einem Piratenfilm entsprungen, mit derb gekleideten Dorfbewohnern und einem Mann in Priesterkleidung verhandelte. Sie stritten, Fäuste wurden geschwungen, der Priester hielt ein großes Kreuz empor und schwang es drohend wie einen Hammer.
    »Die Dorfältesten warnten und flehten, der Priester warnte und drohte, aber der Ahnherr der Vandenbourghs wischte all d ie Warnungen mit einem blitzenden Lachen beiseite und befahl seinen Dienern, das Haus nun gerade genau an diesem Platz zu errichten.
    Und so geschah es und so zog Heathcote Vandenbourgh eines schönen Frühlingstages mit seiner jungen Frau in sein neu errichtetes Haus. Ihr Kind, eine Tochter, wurde im frühen Winter geboren, als heftige Stürme die Mauern des Hauses umtobten und ein voller, kalter Mond durch die zerrissenen Wolken schien.
    Der erste Schrei der ersten November Vandenbourgh wurde vom Heulen des Sturms und vom Brausen der Wellen erstickt.
    ›Das Haus am Abgrund‹ oder ›das Herrenhaus‹, so wurde Heathcote Manor genannt. Das war der Name, den die Dorfbewohner laut aussprachen. Wenn sie fluchten, wenn sie das Kreuz schlugen oder die alten Schutzzeichen in die Luft zeichneten, dann nannten sie es anders. ›Das Haus ‹, sagten sie. Und manchmal, in einem Anfall von Trotz und Tollkühnheit, flüsterten sie seinen wahren Namen: ›Das Haus auf den Knochen‹.«
    »Hu«, machte November und kuschelte sich an mich. Ich legte meinen Arm um sie und genoss bei aller Spannung ihre Berührung. Die alte Frau lächelte nur mit den Augen und fuhr fort.
    »Die Warnung, die der Hausherr in den Wind geschlagen hatte, erwies sich als begründet, das musste die Familie nach und nach leidvoll erfahren. Die junge Frau Vandenbourgh starb im zweiten Winter nach ihrem Einzug und ließ den Witwer untröstlich zurück. Dies war nicht der erste Schicksalsschlag, weitere folgten. Missernten, Blitzschlag, der Vorratsscheunen niederbrann t e, Fischerboote, die niemals vom Meer zurückkehrten, Unwetter und Krankheiten überzogen das Dorf und das Herrenhaus. Dazu ereigneten sich tödliche Unfälle, Schlägereien, die mit dem Tod oder mit der Verkrüppelung der Teilnehmer endeten, Kinder verschwanden aus ihren Wiegen und Laufställen, Frauen wurden geschändet und getötet – und niemals wurde der Schuldige gefunden und konnte für seine Taten gehenkt werden.
    Die Dorfältesten und der Priester suchten den Hausherrn auf und baten ihn inständig, das Haus niederzubrennen und seine Asche zu verstreuen. Der Platz über den Höhlen der alten Götter hätte niemals, niemals bebaut werden dürfen ... und hier sahen sich die Dorfleute unbehaglich an. Sie hatten es laut ausgesprochen.«
    »Höhlen?«, fragte November. »Was für Höhlen?«
    Die alte Ms Vandenbourgh trank von ihrem inzwischen kalten Tee und sah uns an. »In der Klippe befinden sich tiefe, uralte Höhlen und Gänge«, erwiderte sie nach einer Weile, in der nur die Schreie der Möwen über der Bucht und das ferne Rauschen des Meeres zu hören waren. November, die sich immer noch an mich schmiegte, atmete leicht und leise und wandte den Blick nicht von ihrer Großmutter.
    Ich drückte ihre Schulter. Ich kannte diese Höhlen. Wie an ein Traumbild erinnerte ich mich an den Geruch von Moder, das Gefühl von trockenen Zweigen, die unter meinen Füßen zersplitterten.
    »Was hatte es damit auf sich?«, fragte November.
    Ihre Großmutter beugte sich vor und faltete die Hände im Schoß.
    » Niemand aus dem Dorf wollte über die Höhlen sprechen. Sie sagten dem Herrn von Heathcote Manor nur, er solle auf

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