Das Haus am Abgrund
»Hab keine Angst. Sie werden sich nicht trennen«, sagte sie. »Nicht, solange du noch lebst.«
Ich nickte. »Weiß ich. Das ist es nicht.« Ich suchte nach Worten. »Es war immer ein gutes Gefühl, zu wissen, dass sie wenigstens einander noch haben, wenn ich tot bin.« Jetzt fühlte ich mich, als hätte mir jemand den Boden weggezogen und ich hing frei in der Luft.
Sie rieb an einem Farbfleck auf ihrem Daumen. »Sie lieben sich, aber sie kommen nicht gut miteinander aus. Das war schon immer so.«
Das war schon immer so. Ich erinnerte mich an heftige Streitereien, an Wutausbrüche meines Vaters, an knallende Türen und laute Stimmen, an Jonathans traurigen Blick beim Frühstück, an Tobys verbissenes Schweigen. Sie hatten damit aufgehört, als ich das erste Mal ins Krankenhaus kam. Ich hatte nie darüber nachgedacht, dass es um meinetwillen war. Dass sie sich beide zusammenrissen, um mir das bisschen Leben, das ich noch hatte, nicht zu verderben.
Jeannie nickte. Natürlich kannte sie meine Gedanken genauso gut wie ich selbst. »Mal weiter«, sagte sie. »Mal weiter«, wieder h olte sie im tiefsten Bass, den man sich nur vorstellen kann. Ich sah auf und blickte Gino an, der drohend auf die Staffelei zeigte. »Weiter!«
Ich gehorchte dem riesigen Genius lieber. Und es tat gut. Wirklich, es tat gut.
Das Telefon im Flur klingelte. Natürlich hob niemand ab, also warf ich Gino meinen Pinsel und die Palette zu und rannte hinunter. Ich riss den Hörer von der Gabel. »Ja?«, rief ich atemlos.
Es rauschte. Dann hörte ich Novembers Stimme, zögernd. »Adrian? Bist du das?«
»Ja. Ja, ich bin es«, antwortete ich überrascht. November. Sie rief mich an!
»Störe ich dich? Soll ich später ...«
»Nein!«, beeilte ich mich zu versichern, »ich freue mich, dass du anrufst. Was ...«
»Die alte Frau«, unterbrach sie mich. »Ms Vandenbourgh. Sie möchte, dass wir beide sie heute besuchen.«
Ich hörte ihren Atem. Das Gefühl, sie ganz nah an meinem Ohr zu spüren, obwohl doch einige Kilometer zwischen uns lagen, kitzelte mich an ganz seltsamen Stellen. Ich fand, dass ihre Stimme angestrengt klang. »Ist alles in Ordnung?«, fragte ich.
Sie antwortete nicht sofort. »Ja«, sagte sie dann. »Alles okay. Wir sehen uns nachher? Um drei?«
»Gut, ja, um drei. Ich freu mich!« Sie hatte schon aufgelegt und ich grinste noch ein paar Sekunden den Hörer an.
Als ich mich umdrehte, stand Jonathan im Bademantel da. Er sah schrecklich aus. Er starrte mich mit einer Hoffnung in den Augen an, die mir wehtat. »Toby?«, fragte er. Seine Stimme k lang rau. Als ich den Kopf schüttelte, sanken seine Schultern hinab und er nickte resigniert.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Also sagte ich: »Ich mach dir ein Frühstück, Jonty.«
Er zeigte aufs Badezimmer, grinste schief und verschwand hinter der Tür. Ich setzte Kaffee auf, stellte eine Pfanne auf den Herd und briet Spiegeleier.
Das erste brannte mir ein bisschen an, aber die nächsten beiden waren top. Ich ließ sie auf eine gebutterte Scheibe Brot rutschen und stellte alles auf den Tisch. Jonathan kam herein, er hatte sich angezogen und sah nicht mehr ganz so aus, als hätte der Geist von Hamlets Vater nach einer längeren Sauftour mit den Macbeth-Hexen noch einen mit Captain Jack Sparrow gehoben. Er setzte sich und betrachtete die Spiegeleier. Dann griff er erst einmal zu seinem Kaffeebecher. »Danke«, sagte er.
»Iss, ehe es die Trolle fressen«, sagte ich. Das hatte er immer zu mir gesagt, als ich noch klein war und ein bisschen mäkelig.
Er lächelte mich an und es sah schon deutlich weniger gequält aus. Dann nahm er sein Besteck und aß.
Ich saß ihm gegenüber und sah ihn an. Richtig. Nicht so, wie man Menschen ansieht, die jeden Tag um einen herum sind und die sich grün anmalen könnten, ohne dass man es bemerkt. Es hatte mich sehr erschreckt, dass ich ihn gestern im Garten zuerst für einen Fremden gehalten hatte. Das hatte natürlich daran gelegen, dass der Joker seine spitzen Finger im Spiel gehabt hatte ... redete ich mir ein.
Er sah auf, die Gabel auf halben Weg zum Mund. Eigelb tropfte von dem Bissen auf seinen Teller hinab. »Was denkst du?«, fragte er mich.
I ch zuckte die Schultern. »Weiß nicht.« Ich schlug die Augen nieder. »Ich mache mir Vorwürfe«, setzte ich sehr leise hinzu. »Ich bin an dem ganzen Schlamassel schuld. Wenn ich die Flaschen nicht geklaut hätte ...«
Er griff über den Tisch und fasste mein Handgelenk. »Du bist an
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