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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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»November, mein Liebes«, sagte sie mit ihrer honigdunklen Stimme. Heute trug sie k eine Jeans, sondern ein altmodisches, hell geblümtes Kleid und eine Strickjacke darüber, und einen Augenblick lang täuschte mich das Licht und ich glaubte, November stünde dort. Dann ging der Augenblick vorüber, und es war die alte Frau, die mir zunickte, lächelte und die Tür weit für uns öffnete.
    Auf dem Tisch stand ein Korb mit warmen Scones, daneben zwei Kannen, aus denen es nach Tee und Kakao duftete. Geschlagene Sahne, Marmelade, eine Schale mit Kompott, dazu hübsches blau-weißes Geschirr auf einem blendend weißen Tischtuch. Die alte Dame hatte sich richtig ins Zeug gelegt, um uns zu bewirten. Jetzt tat es mir leid, dass ich ihr nicht doch wenigstens einen kleinen Strauß Blumen mitgebracht hatte.
    »Setzt euch bitte«, sagte sie und verschränkte die Hände. Ich hatte den kurzen Impuls gesehen, mit dem sie Nova über den Kopf hatte streichen wollen. Sie hielt ihre Hände fest umklammert und sah mich über Nova hinweg an. »Adrian. Möchtest du am Fenster sitzen?«
    Ich ließ mich in die Ecke des Sofas sinken und wartete, bis November sich neben mich geschoben hatte. »Danke für die Einladung, Ms Vandenbourgh«, sagte ich dann.
    Sie lächelte. Sie war so nervös, dass ich es fast fühlen konnte. »Schenkst du uns ein, Adrian? Ich möchte Tee, bitte.«
    Ich fragte Nova, was sie trinken wollte. Sie entschied sich für den Kakao und ließ sich von mir auch einen Scone auf den Teller legen. Dann saßen wir da und schwiegen. Nova starrte ihre Tasse an.
    »Liebes«, sagte die alte Frau sanft, »ich freue mich sehr, dass du meine Einladung nicht ausgeschlagen hast. Meinst du, wir könnten Frieden schließen?«
    I ch trank Kakao und sah die beiden an, die alte Frau und das Mädchen. Vandenbourgh. November und ... Ich runzelte die Stirn. Wie mochte die alte Frau heißen? Wann hatte sie wohl Geburtstag?
    Nova blickte jetzt auf und seufzte. »Ich weiß nicht«, sagte sie spröde. »Du hast meine Eltern und mich so lange von dir weggestoßen. Warum kommst du jetzt auf einmal an? Was willst du von mir?«
    Die alte Frau senkte den Blick nicht vor Novembers Anklage. Sie nickte. »Wir sind die letzten Vandenbourghs«, sagte sie mit nicht minder spröder Stimme. »Mit dir und mir wird unsere Familie enden. Endlich. Der Fluch wird ein Ende haben.«
    »Geschwätz«, sagte Nova seidenweich.
    Die alte Frau riss den Kopf hoch und starrte November an. Ihr Blick war so kalt wie die Arktis und wurde ebenso eisig erwidert. »Du hältst dich für sehr klug«, sagte sie grimmig. »Du sitzt da, hüllst dich in deine Trauer und deinen Zorn wie in ein prächtiges Kleid und denkst, du könntest über mich richten. Du weißt nichts, Kind. Gar nichts.«
    Novas Augen blitzten vor unterdrücktem Zorn. Ich sah, dass sie die Fäuste ballte. »Ich bin nicht hergekommen, um mich von dir beschimpfen zu lassen«, sagte sie so ruhig, dass ich ihre Beherrschung bewunderte.
    Ich beugte mich zu ihr und legte meine Hand auf eine ihrer Fäuste. »Hör ihr zu«, sagte ich. »Sie will uns vom Haus erzählen. Du warst mit mir dort drinnen, du hast erlebt ...«
    Die alte Frau erschreckte mich. Sie richtete sich hoch auf und rief klagend wie eine Eule: »Du warst im Haus ? November, du warst dort?«
    W ir starrten sie beide an. »Ja«, sagte November zögernd. »Ich glaube schon. Ich bin nicht ganz sicher.«
    Jetzt war ich es, der sie verblüfft ansah. »Du bist dir nicht sicher?«
    Sie schüttelte den Kopf, die Lippen zusammengepresst. »Ich kann nicht auseinanderhalten, was ich geträumt habe und was wirklich passiert ist. Sie haben gesagt, dass das aufhören wird, wenn ich den Schock verarbeitet habe.« Ihr Tonfall hatte etwas von einer zuschlagenden Tür, die fest verschlossen und verriegelt wurde.
    Eine Weile herrschte unangenehme Stille. Ich räusperte mich und griff nach der Teekanne. »Darf ich Ihnen nachschenken?«, fragte ich die alte Frau. Sie zuckte zusammen, sah mich erschrocken an, dann schüttelte sie den Kopf und lachte ein wenig ärgerlich.
    »Ich bin eine lausige Gastgeberin«, sagte sie. »Entschuldige, Adrian. November. Es tut mir leid.« Sie deutete auf unsere Tassen. »Nehmt euch noch Kakao. Ihr seid gekommen, um eine Geschichte zu hören, also erzähle ich sie euch – oder zumindest einen Teil davon. Denn es ist eine lange, eine sehr, sehr lange Geschichte.«
    Sie lehnte sich zurück und wartete, bis ich unsere Tassen gefüllt hatte. Dann

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