Das Haus am Abgrund
gar nichts schuld. Wir haben uns die ganze Woche schon gestritten, Toby und ich. Das jetzt war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.« Er ließ mich los. »Er kommt morgen oder übermorgen zurück und dann ist alles wieder im Lot.« Er aß weiter. Ich gab mir Mühe, die Lüge zu schlucken, und nickte. Seufzte. »Warum?«
Er trank von seinem Kaffee. »Warum was?«
»Warum streitet ihr euch?« Ich musste an Jeannies Worte denken. »Ihr habt euch doch lieb?«
Er setzte den Becher hart ab. Ein paar Tropfen spritzten heraus und er tupfte sie mit dem Finger auf. »Ja, das haben wir«, erwiderte er nachdenklich. »Das haben wir wirklich.« Weiter sagte er nichts.
Ich stand auf und räumte meinen Becher in die Spülmaschine. »Ich bin gleich verabredet. Kann ich dich allein lassen?« Das fragte er sonst mich immer. Ich drehte mich um und erwischte noch das Lächeln auf seinem Gesicht.
»Lauf, mein Junge«, sagte er. »Ich bin scheußlich verkatert und keine gute Gesellschaft. Ich werde mich mit einem Buch in den Garten setzen und meinen Kopf auslüften.«
Ich rannte nach oben und stand eine Weile vor meinem Kleiderschrank, kaute unschlüssig auf meinem Daumennagel herum. Es wäre vollkommen unpassend, sich jetzt fein zu machen. Aber der Drang, sich für Nova in Schale zu werfen, war beinahe ü bermächtig. Ich zwang mich, ein frisches T-Shirt, eine saubere Jeans und meine grüne Sweatjacke aus dem Schrank zu nehmen und das weiße Hemd, das Jackett und die Hose mit den Bügelfalten hängen zu lassen, die ich zuletzt bei einem Besuch mit meinen Vätern in Covent Garden getragen hatte.
Vor dem Spiegel ging ich noch einmal mit dem Kamm über meine Haare – nicht, dass das viel gebracht hätte – und streckte Jeannie die Zunge heraus, die hinter mir stand und Grimassen schnitt.
Vor dem Dorfladen blieb ich stehen und dachte nach. Sollte ich Blumen mitbringen? Beiden? Oder noch mal Pralinen? Wie machte man das beim zweiten Besuch? Wenn ich Ms Vandenbourgh etwas mitbrachte, November aber nicht, sah das blöd aus? Und eigentlich wollte ich doch viel lieber November etwas schenken ...
Ich entschied mich für die unverfänglichste Lösung und ging weiter, ohne den Laden betreten zu haben.
Ich lief am Sailors vorbei, wo wie immer ein paar ältere Jungs herumlungerten und Bemerkungen über Vorübergehende rissen, sich schubsten und lachten und bei alledem einen Höllenlärm veranstalteten. Gelegentlich kam jemand aus dem Pub und ermahnte die Burschen, dann nahmen sie sich ein paar Minuten zusammen, und schließlich ging es von vorne los.
Der schmale Bürgersteig war blockiert, weil zwei von ihnen sich rauften und der Rest um sie herumstand und sie anfeuerte. Der Rothaarige, der auf seinem blonden Gegner kniete, drosch mit einer Wut auf sein Opfer ein, die mir Angst machte.
Ich schlug einen großen Bogen um die Jungen und hörte noch, w ie einer von ihnen hinter mir herschrie: »He, Pussy! Komm rüber, wenn du dich traust!«
Ich ignorierte ihn und bog um die Ecke in die Straße, die hinauf zu Ms Vandenbourghs Haus führte.
November wartete vor dem Cottage. Sie hockte auf einem Mäuerchen und las in dem roten Tagebuch. Als ich ihren Namen rief, sah sie auf. Ihre Augenlider waren geschwollen, als hätte sie geweint, aber sie lächelte und winkte mir zu.
Ich blieb vor ihr stehen und suchte nach Worten. Sie war so unglaublich schön, dass mir der Atem stockte. Sie klappte das Büchlein zu, steckte es in ihre Tasche und beugte sich dann zu mir. Ihre Lippen berührten zart und federleicht meine Wange. »Hallo Adrian«, sagte sie. »Gehen wir rein?«
Ich fragte mich, warum sie draußen auf mich gewartet hatte, statt schon zu ihrer Großmutter ins Haus zu gehen. Ich folgte ihr zur Haustür. »Alles okay?«, fragte ich. »Du siehst aus, als ob dich was bedrückt.«
Sie blieb stehen, sah mich über die Schulter hinweg an. »Hast du es nicht gehört? Was im Pilchards’ Bay passiert ist?«
Ich hatte gar nichts gehört. Sie biss sich auf die Lippe. »Irgendwelche Typen haben dort ein paar Schuppen angezündet und den armen Mann krankenhausreif geprügelt, der da lebt.«
Mir stockte der Atem. »Skeggs Schuppen auch?«
Sie nickte mit verkniffener Miene und klopfte an die Tür.
Skeggs Unterlagen. Sein Archiv in der Metallkiste. Der arme Kerl, das war sein Leben gewesen. »Wie geht es ihm?«, fragte ich, aber in dem Moment öffnete sich die Tür und die alte Ms Vandenbourgh lächelte ihre Enkelin an.
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