Das Haus am Abgrund
fort.
»Der Wind riss an Novembers Kleid, an ihrem Schleier. Sie bändigte die flatternden Stoffbahnen mit ihren Händen und konnte kaum erkennen, wohin ihr Vater sie führte. Endlich standen sie am Rande der Klippe. Unter ihnen brauste und toste das Meer, Wolken zogen wie zerrissene Brautschleier über den nachtschwarzen Himmel und immer wieder schien der volle Mond z wischen ihnen auf und tauchte die Landschaft in sein kaltes Licht.
Sie warteten. Die beiden Jungen flüsterten und traten von einem Bein aufs andere, der Vater stand starr wie eine Statue. November blickte hinaus aufs Meer und wünschte sich, die Straße, die das Mondlicht auf die Wellen zeichnete, sei aus festem Stein.
Sie atmete hastig und erschreckt ein, als eine Hand sie zwischen den Schulterblättern berührte. ›Schöne Braut‹, flüsterte eine dunkle Stimme in ihr Ohr. ›Lass dich ansehen.‹ Eine Hand hob ihren Schleier. Schwarze Augen in einem bleichen Gesicht musterten sie.
November hatte sich davor gefürchtet, dass ein Monstrum vor ihr stehen würde, ein Ungeheuer mit blutigen Händen und langen Zähnen, und sie erwiderte voller Überraschung das Lächeln, das der Fremde ihr nun schenkte. Er war schlank und wohlgestalt, und die Züge seines Gesichtes, obzwar blass wie das Licht des Mondes, erschienen ihr durchaus angenehm.
›Ich danke Euch, dass Ihr Euer Versprechen gehalten habt, Herr von Heathcote Manor‹, sagte der Fremde laut. ›Ihr und Eure Söhne könnt Euch nun entfernen.‹ Er reichte November eine behandschuhte Hand und deutete auf eine Tür im Fels, die noch einen Augenblick zuvor nicht da gewesen war. ›Folge mir, meine schöne Braut.‹ Seine Stimme war sanft und sein Blick lockend und voller Versprechungen.
Die Tür schwang auf und offenbarte eine tiefe, schwarze Finsternis, aus der ein kalter Grabeshauch drang. November schauderte und wich einen Schritt zurück.
›Folge mir‹, sagte der Fremde, und seine Stimme glich einer blanken Klinge, die in dunklem Samt verborgen war. November w arf einen Blick auf ihren Vater und ihre Halbbrüder, aber sie standen starr wie Puppen, und kein Atemzug, kein Wimpernschlag zeigte an, dass Leben und Wärme in ihnen waren.
›Folge mir!‹, sagte Cenn Crúach zum dritten Mal und November folgte ihm.
Die Tür schloss sich hinter ihnen, und wieder war dort nur nackter Fels, wo gerade noch schweres, geschnitztes Holz gewesen war.
Der Herr von Heathcote Manor erwachte aus seiner Betäubung und kehrte mit seinen Söhnen ins Haus zurück.
Seine Tochter blieb von diesem Tag an verschollen.«
*
Es war dunkel und kalt. Wasser tropfte von den feuchten Wänden, ihre Schritte hallten wie ferner Donner.
Der Fremde führte sie in ein Gewölbe, in dem Kerzen ein unstetes Licht warfen. Ein Thron stand in seiner Mitte und rund um den Thron lagen Gebeine wie zerbrochenes, aufgeschichtetes Geäst.
Novembers Schritt verhielt, ihr Atem stockte, sie griff an ihre Kehle. Der Zauber verflog, sie begann sich zu fürchten. »Nein«, sagte sie erstickt. »Bitte, nein!«
Der Fremde blieb dicht hinter ihr stehen. Er legte seine Hände auf ihre Schultern und beugte sich über sie, wie um ihren Nacken zu küssen und sanfte Worte zu murmeln, die ihre Angst vertreiben sollten.
»Nimm deine dreckigen Hände von ihr«, hörte ich mich knurren. Ich trat aus dem Schatten hinter dem Thron und zog mein S chwert. »Weiche von ihr, Gott der Dunkelheit und des Todes. Sie soll dir nicht gehören!«
Cenn Crúach lachte. Hier, in der Dunkelheit der Unterwelt, war seine Erscheinung königlich und stolz. Dunkles Haar lag wie ein glänzender Helm um sein Gesicht, aus dem seine Augen wie Kohlen auf mich herabblickten. Er hob seine Hand, und mit einem Wink, der so beiläufig war, als verscheuchte er eine lästige Fliege, legte er einen Zauber auf mich, der mir die Kraft aussaugte und mich gegen den steinernen Sitz zurücktaumeln ließ. Meine Hand sank hinab, das Schwert klirrte auf den felsigen Boden.
»Adrian«, wisperte November, die hinter mir Schutz gesucht hatte, und legte die Arme um meine Hüfte. »Adrian, er wird dich töten. Lauf, mein Liebster. Bringe dich in Sicherheit. Ich bin verloren!« Ich hörte ihr Schluchzen und kämpfte den Zauber nieder, der mich gebannt hielt. Ich bückte mich, um das Schwert wieder aufzunehmen.
Cenn Crúach lachte erneut, und sein Lachen war voller Vorfreude. »Ein Blutopfer vor der Hochzeitsnacht«, sagte er mit seiner samtigen Stimme. »Wie wunderbar und erregend! Komm zu
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