Das Haus am Abgrund
Idiot«, sagte ich. November flüsterte: »Pst! Nun unterbrich sie doch nicht immer!«
Ihre Großmutter nickte mir zu. »Er hat getan, was er für rich t ig hielt. Ich denke, er wusste nicht wirklich abzuschätzen, was es bedeutete.
Der Fremde, Cenn Crúach, kehrte am übernächsten Tag zurück. Der Hausherr empfing ihn mit einem Becher, in dem blutroter Wein schwappte, weißem Brot und Salz. Cenn Crúach brach das Brot, bestreute es mit Salz und verspritzte ein wenig von dem Wein auf die Schwelle, bevor er trank. Dann setzte er sich zu Heathcote Vandenbourgh an seine lange Tafel, aß und trank mit ihm, sie rauchten eine Pfeife zusammen, und dann holte der Hausherr seinen Schreiber, und Cenn Crúach diktierte ihm den Wortlaut des Vertrages, den beide sodann mit ihrem Blut unterzeichneten. Dann verließ Cenn Crúach das Haus und sollte von da ab seine Schwelle nie wieder überschreiten. Der Hausherr versiegelte den Vertrag und vergaß ihn.«
»Bis zu Novembers sechzehntem Geburtstag«, flüsterte Nova. Ihre Finger lagen zitternd wie ein kleiner Vogel in meiner Hand.
»Über Heathcote Manor schien von da ab die Sonne des Glücks. Der Hausherr fand eine zweite Frau, die ihn und seine Tochter von Herzen liebte und ihm noch drei Kinder gebar, zwei Söhne und eine Tochter. Sein Wohlstand mehrte sich, und sein Ansehen in der Grafschaft wuchs mit jedem Tag. Die Dorfbewohner, die eine Weile noch argwöhnisch und voller Sorge gewesen waren, fanden sich ebenfalls von einer starken, unsichtbaren Hand geschützt. Das Dorf blühte, und die Dorfbewohner priesen den Tag, an dem Heathcote Vandenbourgh sein Schiff verlassen und sein Haus auf der Klippe errichtet hatte.
D er Hausherr hatte niemandem von seinem Geschäft mit Cenn Crúach erzählt, und im Laufe der Jahre, in denen er glücklich mit seiner Familie in Heathcote Manor lebte, hatte er selbst beinahe vergessen, was vereinbart worden war.
Dann, in der Woche vor Novembers sechzehntem Geburtstag, stand eines Morgens eine verschnürte Kiste vor der Tür, auf der ihr Name stand. Darin befanden sich ein reich besticktes, mondscheinweißes Gewand, ein diamantbesetztes Diadem und ebensolche Armbänder, seidene Schuhe und ein langer, spitzenbesetzter Schleier. Der beigelegte Brief lautete: ›Trag dies an deinem Geburtstag. Ich erwarte dich. C.C.‹
Als ihr Vater das Kleid und den Brief sah, wurde er bleich.
Seine Frau und seine Tochter bestürmten ihn, ihnen zu verraten, was dies zu bedeuten habe. Wer war der geheimnisvolle und großzügige Absender? Ganz offensichtlich wusste er doch, von wem das prächtige Gewand und der kostbare Schmuck stammten. War es ein Bewerber um Novembers Hand?
Heathcote Vandenbourgh wehrte alle Fragen ab. Er zog sich in seine Gemächer zurück und schloss sich dort ein.
Erst am Abend des Samhain-Festes bekam seine Familie ihn wieder zu Gesicht. Er wirkte um Jahre gealtert. Schweigend, ohne die drängenden Fragen seiner Frau zu beantworten, nahm er das Kleid, die Schuhe, den Schleier und das Geschmeide, die immer noch in ihrer Kiste lagen, und brachte all dies seiner Tochter.
Seine Frau und seine beiden Söhne, die ihm folgten, mussten vor der geschlossenen Tür warten. Sie hörten, wie er drinnen in eindringlichem Ton mit November sprach, und dann herrschte lange Zeit Stille.
A ls die Tür sich öffnete, stand November vor ihnen. Sie war totenbleich und hatte geweint, das war deutlich zu erkennen, aber sie strahlte im Glanz der prächtigen Kleider. »Ich bin bereit«, sagte sie. Ihr Vater, der mit der Hand auf ihrer Schulter hinter ihr stand, bedeutete den beiden Söhnen, sie sollten den langen Schleier aufheben und ihm folgen.
Ohne die Fragen seiner Frau und der Jungen zu beachten, führte er November zur Tür hinaus, in die stürmische Nacht.«
»Ich dachte, er bringt sie in den Keller«, flüsterte November. Ich nickte und drückte ihre Hand. Sie war so blass wie die November in der Geschichte.
Ihre Großmutter sah sie voller Mitleid an. »Das Haus hatte damals wohl noch keinen eigenen Zugang zu den Höhlen«, sagte sie. »Erst der Enkel des ersten Heathcote Vandenbourgh hat für einen Durchbruch von den Kellern des Hauses in die tieferen, uralten Gewölbe gesorgt. Es war wohl einfacher so ...« Sie verzog das Gesicht zu einem Ausdruck, der mir Angst machte. Hass, hilfloser, rasender Zorn, ein Ausdruck, der dem Wahnsinn so nahe war, dass ich mit einem Mal verstand, warum man im Dorf erzählte, sie sei verrückt.
Sie fasste sich und fuhr
Weitere Kostenlose Bücher